Schirm & Chiffre
: Über den Käseberg in die Digitale Zone

■ Irrtümliche Identitäten, U-Bahn-Fahrten, Hundeblick: Auf CD-ROMs paßt einfach alles. Das Multimedia-Forum auf dem Videofest

Sie sind wirklich überall. 1995 wird als das Jahr in die Geschichte eingehen, in der die CD-ROM über uns kam. Gleichzeitig verfestigt sich der Eindruck, daß die Silberscheiben das Nummer-eins- Medium für Trashware sind. Je höher die Flut der Billigproduktionen anwächst, desto dringender wird offenbar das Bedürfnis nach Qualitätskontrolle, da sind sich Industrie und Konsumenten einig: Die Firmenpräsentationen auf dem Multimedia-Forum des Videofests waren mehr als gut besucht. Die Multimedia-Anwendungen im Foyer bestätigen, daß es auch anders geht. Auf den Read Only Memories kann man sogar Kunst abspeichern.

Christine Tamblyns „Mistaken Identities“ läßt sich von Leben und Arbeit zehn berühmter Frauen inspirieren. Tamblyn führt vor, wie Colette, Marlene Dietrich oder Gertrude Stein als role models im „dilemma of how to be a woman“ für Frauen in der Gegenwart fungieren können. Hallo Madonna! Auch wenn Stofftexturen und Kitschrosen die Benutzeroberfläche zum elektronischen Poesiealbum werden lassen, scheint es, als ob Tamblyn zwischendurch des Sinns für Ironie verlustig gegangen sei. In einer Sektion kann ihr Portrait per Morphing langsam ins Bild eines der Stars verwandelt werden.

Alles andere als ein Poesiealbum ist „BLAM!2“. Die Anwendung nervt den User schon bei der Installation: „Load up the CD and shit!“ Ein Fenster nach dem anderen will geöffnet werden, bevor es losgehen kann. Ist das letzte endlich angeklickt, fügen sich die Buchstaben zu einem „Halleluja!“ zusammen. Hier wird der User zum Opfer; „BLAM!“ verweigert sich konsequent jeglicher Interaktivität. Ununterbrochen bläst Industrialkrach aus den Boxen und jagt eine hektische Abfolge von Leichen, Titten, Schwänzen und überhaupt von allem, was für Kinder nicht gut ist, über den Bildschirm.

Simon Biggs' „Book of Shadows“, eine Dokumentation seiner Installationen, fragt sich, wie multi Multimedia eigentlich sein muß. Und wenn's nicht sein muß, gibt es eben keine Musik; auf Knöpfe, Hypertexthierarchien und ähnliches wird gänzlich verzichtet. Reduktion herrscht vor, Interaktivität stellt sich auf einer anderen Ebene her. Die Mausbewegungen provozieren beinahe filmische Veränderungen auf dem Schirm, alles ist im Fluß, verändert sich.

Je weiter sich die anderen als Sozialkontakte oder warme Körper aus dem Einzugsbereich des Interfaces entfernen, desto größer wird anscheinend der Wunsch, in der Welt des Digitalen Menschen darzustellen. Während wir uns im „Book of Shadows“ einer Gruppe Nackter gegenüber sehen, führt der amerikanische Künstler Gary Peppermint in „With All this Who Could Go Home?“ seinen fragmentierten Körper vor. Auch er ist nackt, Arme, Beine und Penisse fungieren aber lediglich als Trägermedien, durch die die Konstruktion von Identitäten bewerkstelligt werden kann. Wie Unterhosen und Hemden, Orte und Songs sind auch sie beliebig austauschbar: das Subjekt als Produkt seiner aktuellen Konsumentscheidung.

An anderer Stelle ist mit Multimedia das interaktive Missing link zwischen Bilderbuch und Trickfilm gefunden worden. Der Zeichner Shigeru Tamura hat eine seltsam kleine Welt geschaffen, in der man von der Schädelinsel über den Käseberg in die Digitale Zone reisen kann. „Micromondo“ ist ein Planet voller fantastischer Orte und Lebewesen wie den hüpfenden Telefonleitungen, die sich selbst verlegen und dabei komisch quietschen. Mit dem Hundesimulator „P.A.W.S.“ kann der kleine User dagegen die Perspektive eines Hundes einnehmen. Während der Flughundsimulation wollen Knochen eingesammelt werden, der Blick ins Innere des Hundes klärt über die Arbeit der Maschinisten und die Vorgänge während der Verdauung auf.

Mina Hagedorns „Soundpostcards from Berlin“ beweisen schließlich, daß multimediale Anwendungen weder CD-ROMs noch Hollywood-Etats brauchen, um zu funktionieren. Die Collage hat auf zwei Floppy Disks Platz, erzeugt aber doch einen dichten Klangraum, der gegenüber den Bildelementen im Vordergrund steht. Eine U-Bahn-Fahrt verbindet die sechs Module, in denen der Anwender vor allem mit dem Sound spielen kann: DJing mit den Geräuschen des Alltags aus Kebab-Buden, Straßen, Ramschkaufhäusern und nächtlichen Wohnungen. Ulrich Gutmair