Filmfeste Biographien
: Sich selbst und andere beschreiben

■ Politik und Restfamilie: Inkompatible Entwürfe

Eigentlich dürfte es ja kein Problem sein, die Biographie von Nixon in einem Dreistundenfilm zu umreißen. In der Form klassisch, Aufstieg und Fall, wird die Geschichte des Präsidenten der USA (1969 bis 1974) von Oliver Stone zu einer Mischung aus Jüngstem Gericht und Rührstück verschnitten. Natürlich sind die Diplomatie und die Skandale seiner Amtsgeschichte nötig, um seinen politischen Stellenwert zu vermessen, aber welches Material steht dagegen? Das Verhältnis zu seiner Frau Pat und die Geschichte Richard Nixons als Sohn eines kleinen Händlers in Kalifornien. Damit hätte man so etwas wie die Geschichte einer Motivation und ihrer Folgen.

Das Muster ist die klassische Psychoanalyse. Aber Biographen, die es kopieren, vergessen, daß die klassischen Fallgeschichten von Menschen handeln, die Heilung gesucht haben. Aus der Sicht des Therapeuten, zumindest, sind diese Fälle gelöst. Einem egomanen Tyrannen, der Südostasien in Asche legt, kann man aber schlecht mit seiner bornierten Quäkermutter kommen. Und wenn Stone es doch tut, fragt man sich, warum er die Identifikation mit dem mühsamen Schicksal aufrechter Siedler vorantreibt – um uns dann mit den Folgen der Motivationsgeschichte abzuhängen.

Stone, der sich so umsichtig gibt und Nixon – hört, hört! – mit seinem eigenen Vater vergleicht, bedient die zwiegespaltene Selbstwahrnehmung der Amerikaner, die die Rechtschaffenheit dem Alltag, das per se Böse aber der Politik zuschreibt. Nixons Opfer kommen vor in Form von Nachrichtenfotos, die für Bruchteile von Sekunden eingeschnitten werden in die schwerfällige Erzählung.

Man müßte „Nixon“ einfach in der hundertsten Minute unterbrechen und diesen Film komplett hineinschneiden: a.k.a. Don Bonus von Sokly „Don Bonus“ Ny undSpencer Nakasako. Ny wurde als Kleinkind aus dem brennenden Dschungel Kambodschas getragen und ist in Vierteln von San Francisco aufgewachsen, die so trostlos aussehen, daß mein Kollege an Los Angeles gedacht hat (taz vom 21.1.). Ausgestattet mit einer faustgroßen Kamera aus dem Workshop Nakasakos, der am Ende den Schnitt besorgen mußte (60:1!), hat Ny in einer Jahresarbeit seine Lage als Highschoolschüler im letzten Jahr beschrieben. Schulangst, Einbruch, zwei Umzüge und die große Trauer über die Abwesenheit der Brüder, den verlorenen Vater: „Shit, no one think of him no more.“

Was man beim Ansehen des Films am schnellsten vergißt, ist an ihm das Beste: daß Ny die Kamera in entscheidenden Situationen einsetzt und nicht abschaltet. Die brüchigen Verwandtschaftsbeziehungen werden sichtbar, und wenn Ny aus dem Off einspricht, er hasse seinen Stiefvater, hat er ihn auch im Zoom. Als der jüngere Bruder verhaftet wird, weil er einen schwarzen Mitschüler zu erschießen versucht hat, fragt Ny in die familiale Runde, wie es dazu kommen konnte, und einer sagt: „Wenn Nixon nicht Kambodscha bombardiert hätte, wären wir überhaupt nicht hier.“ Das Wackelvideo ist aber jenseits des Konjunktivs. Es zeigt sehr klar, wie die sozialen Kräfte die einzelnen Mitglieder der Familie nach oben oder nach unten ziehen. Die family values – des Buddhismus – in die Steinzeit zurückgebombt, gibt es fast nichts, worauf man sich berufen kann. Sokly Ny hat begriffen, daß sich selbst zu beschreiben nur noch heißen kann, (sich) nach den anderen zu fragen.

Tim Robbins „Dead Man Walking“ ist eine geradezu equilibristische Studie inkompatibler biographischer Entwürfe. Schnittpunkt ist das Verbrechen. Auf der einen Seite der Mann, der getötet hat und jetzt, nach sechs Jahren im Wartetrakt, seinerseits getötet wird. Auf der anderen Seite die Familien der Teenage-Kinder, an deren grausamem Ende er beteiligt war.

Niemals würde Tim Robbins auf die Oliver-Stone-Idee verfallen, die Geschichte der einen oder anderen Seite mit dem naiven Ideologem amerikanischer Bodenständigkeit attraktiv zu machen, um im Gegenzug den Einbruch oder das Erwachen des Bösen (den Wunsch zu töten oder töten zu lassen) als interessante Verirrung zu featuren. Der Hintergrund des Täters ist nicht relevant, weil man sein Verbrechen damit „erklären“ könnte, sondern weil es ihm genau das Profil im System der Justiz verleiht, das zur Auslöschung bestimmt ist. Die für immer gebrochene Geschichte der Restfamilien der ermordeten Kinder muß man ganz deutlich vor Augen haben, um zu begreifen, daß das Leben des Täters zu beenden nichts mehr retten kann. Während diese Restfamilien der Seelsorgerin des Mörders vorwerfen, ihr Leid nicht anerkennen zu wollen, verschließen sie sehr wohl die Augen vor den Folgen für die Familie dessen, der hingerichtet wird.

Stimmt nicht ganz: Der Vater des toten Jungen erscheint am Rande der Beerdigung des Hingerichteten. Er sagt, er wisse selbst nicht, was er dort suche. Und was sucht er? Den Zirkelschluß, die Aufhebung, das Ende einer Verstrickung. Das ist auch nicht unmöglich. Aber dort endet das, was dem einzelnen gehört. Dort beginnt (wieder) die Politik, oder wahlweise die Religion. Ulf Erdmann Ziegler