Befehl zum Selberdenken

„Man muß Texte nicht verstehen, man muß sie benutzen.“ Die Gruppe „Poetik und Hermeneutik“ diskutierte die Zukunft und löste sich auf. Ein Kolloquium im Einstein-Forum  ■ Von Fritz von Klinggräff

„Das Ende“. Die Konstanzer Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“ geht auseinander; nach dreiunddreißig Jahren und sechzehn gewichtigen Bänden hat die Seilschaft der Hermeneutik mit der Dichtung nun keine Institution mehr.

Das ist gut so. Eine Instanz weniger, vor der ich, nein: man in der Bibliothek des Instituts für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft auf die Knie fiel, wortwörtlich. Und meist vergeblich. Denn natürlich, was man suchte, war da nicht. Das mag Wesenszug literarischer Studien sein – aber wie müde machte das!

Nun also: Konstanz gibt den Löffel ab, und wer noch immer seinen Proust nicht lassen kann, darf ihn jetzt wieder ohne Jauss, Warning und so weiter lesen. Und die Lehre vom Verstehen? Keine Angst. Noch lebt Hans Robert Jauss – der ist nicht glücklich ohne seine Frühjahrsoffensive für die Hermeneutik (Apologie nennt er das). Außerdem gibt man, was aus der Hand des Preußenkönigs kommt, nicht einfach leichtfertig auf.

Zur Erinnerung: Im Jahr 1770 ergeht aus Potsdam eine königliche Anordnung, die für das deutsche Bildungssystem weitreichende Konsequenzen hatte: Friedrich II. erläßt den „Befehl zum Selbstdenken“. Dieser schöne Befehl hatte simple merkantile Gründe – die Effektivität des einzelnen im Staate Preußen sollte gesteigert werden. Der Warenumlauf, sagte man dem König, ließe sich ankurbeln, wenn seine Staatsbeamten, mehr als nur zu buchstabieren, auch die Fähigkeit zur kritischen Lektüre hätten – nicht nur von Kaufverträgen.

Sein „Befehl zum Selbstdenken“ war ein Gebot der Stunde. Der Buchmarkt prosperierte mächtig und konnte vom Professor am Katheder allein nicht mehr bewältigt werden. Trotzdem: Es sollte immerhin noch dreißig Jahre dauern, bis der protestantische Pfarrer Friedrich Daniel Schleiermacher sich daran setzte, dem Selberlesen eine Grundlage zu geben. Er nannte sie in alter Tradition „Hermeneutik“, die allgemeine Lehre vom Verstehen, und hatte nicht weniger im Sinn als die Erfindung einer Methode, die dazu befähigte, jeden Autor, ja, jeden Redenden in seiner Rede „besser zu verstehen als er sich selbst“.

Mit seinem methodischen Gebäude zwar kam Schleiermacher dann nie so recht zum Ende, doch nahm er seine Ahnungen mit an die just gegründete Berliner Universität und machte die Studenten hier auf eine Weise mit der neuen Wissenschaft bekannt, daß diesen Hören und Sehen verging: „Auf dem Katheder überließ sich Schleiermacher seiner Rastlosigkeit im Aufnehmen und Wiederfallenlassen der Probleme, im Anfassen einer Sache bald von der, bald von jener Seite, die dem Zuhörer Schwindel erregen konnte.“

Von der Berliner Universität also ging aus, was sich später als Geisteswissenschaft seinen Platz an den Universitäten erobern sollte. An gleicher Stelle – in der Humboldt-Uni – sitzen heute die Exorzisten der Geisteswissenschaften, die Medienästheten um Friedrich Kittler.

Zurück nach Potsdam. Im Einstein-Forum am Neuen Markt stand am vergangenen Mittwoch aus obengenannten Gründen „Die Zukunft der Hermeneutik“ zur Debatte. Muß sich diese – nach ihrer Trennung von der Poetik – nach neuen Partnern umschauen, wollte der Veranstalter Matthias Kroß von seinen Gästen wissen. Nur einer widersprach ihm. Eloquent bis in den fein gestutzten Vollbart gebärdete sich Jochen Hörisch (Uni Mannheim) als Klinkenputzer des Unverkäuflichen. Hermeneutik hat ihren Sinn nur, wenn sie sich konsequent dem Luxusartikel Kunst verschreibt. Nebenbei pries Hörisch dann noch seine private Wissenschaft der Ontosemiologie an. Aber die schien im überfüllten Einstein-Forum an diesem Tag auch eher unverkäuflich.

Ferdinand Fellmann, Philosoph an der Uni Chemnitz-Zwickau, nahm dann auch die Gegenposition zur alten Partnerschaft von Kunst und Verstehen ein. „Eine unerhörte Verschwendung von Ressourcen“ sei es, rief er und stellte sich wie Friedrich in Positur, im Zeitalter von Internet sein Leben damit zu verplempern, Werke auf ihren Gehalt, Autoren auf ihren gesunden Geist und Sein auf Sinn zurückzuführen? Es komme nicht mehr darauf an, Texte zu verstehen, es komme darauf an, sie zu benutzen.

Was der Philosophieprofessor dann ausführte, war schlicht liberale Diskursanalyse, Datenverwaltung „rein pragmatisch“. Fellmann outete sich als Glückspilz, der beim Zappen durch den Info-Strom Überzeugungen festigt und dabei das Verstehenwollen längst vergessen hat.

Seiner benutzerfreundlichen Respektlosigkeit gegenüber der großen Dichtung – von Homer bis Heidegger – zollte dann Albrecht Wellmer, Chef des Berliner Instituts für Hermeneutik, zwar Respekt – von der Lehre des Verstehens will dieser trotzdem nicht lassen. Wir können gar nicht anders als verstehen, konterte Wellmer ein ums andere Mal, und erwies damit sogar noch dem vielgeschmähten Hermeneutik-Lehrer Gadamer gegen Fellmanns polemischen Positivismus seine kritische Referenz.

Doch Wellmer ist der Derrida- Fraktion an seinem Institut inzwischen viel zu nahe, als daß er es dabei belassen konnte: Das Ethos der Gerechtigkeit – Verstehen des anderen – läßt sich im unendlichen Gespräch nicht abgelten. Paradoxerweise käme Verstehen damit erst im Abbruch des Verständnisses zu seinem Recht: im produktiven Gedanken hier und jetzt.

Mit Wellmer endete die Talkshow der Abel, Hörisch, Fellmann und kehrte zur Philosophie zurück. Dem Publikum wars trotz des verlustigen Unterhaltungswertes genehm. In Person von Frau Goodman-Thau, der Religionsphilosophin aus Halle, stellte es zu guter Letzt gar das einzige Gemeinsame der Männerrunde – die Relativierung der Hermeneutik – vom Kopf noch auf die Füße: Dezision, übersetzte sie fein Wellmers Schlußwort, Dezision – der Abbruch der Diskussion durch den produktiven Gedanken – sei doch nichts anderes als die Erfindung einer neuen Lesart. Hermeneutik kommt mit ihr erst zu sich selbst.