REC! REC! REC! REC!

Vom Trost elektronischer Geräte: Bekenntnisse eines Süchtigen. Zugleich eine kleine Theorie des Videoglücks  ■ Von Jörg Lau

Im Rückblick will es mir scheinen, als sei ich an diesem bewußten Tag tatsächlich mit der diffusen Ausrichtung losgezogen, mir irgend etwas Elektronisches zu kaufen. Das klingt vielleicht absonderlich, aber ich war damals auch in einer verwirrenden Lage. Ich kann das hier nicht ausführen, es muß genügen, wenn ich Ihnen sage, ich steckte in einer ausweglosen Liebesgeschichte und brauchte Trost. Und was soll ich sagen: Ich pflege mir in solchen Situationen elektronische Geräte zu kaufen. Es war, scheint mir von heute aus gesehen, wieder einmal das Verlangen nach dem ganz allgemeinen, ungerichteten, umfassenden Trost von neuen elektronischen Geräten, der mich an jenem langen Donnerstag gleich nach der Arbeit zu Radio Grawert getrieben hatte.

Und dann kam es, je mehr das Beratungsgespräch auf eine Kaufentscheidung hindrängte, offenbar darauf an, etwas Neues zu versuchen. Ein CD-Player schied aus, weil er – Programmierfunktion hin, Fade- und Shuffle-Funktion her – einfach zu sehr an meinen alten Plattenspieler erinnerte. Ein Videorekorder hingegen war etwas Gewagtes. Er würde womöglich mein Verhältnis zu Filmen auf völlig neue Grundlagen stellen. Ich wäre dem Regime des Kinoprogramms nicht länger unterworfen, würde mir alles nach Wunsch anschauen können, die ganze Filmgeschichte würde verfügbar. Ich würde in schmierigen Videotheken herumhängen und das Angebot nach Brauchbarem durchforschen. Womöglich würde ich unauffällig hinter dem Perlenvorhang verschwinden und mir Pornos aussuchen. Alle Leute mit Videorekordern taten das, mindestens einmal aus Neugierde, es wäre ganz normal.

War mir an jenem Winterabend tatsächlich dergleichen durch den Kopf gegangen, oder sind das nicht doch eher nachträgliche Rationalisierungsversuche? Sicher habe ich an diesem Tag überhaupt noch nicht an Pornofilme gedacht, die anzuschauen – statt mich zu trösten – mein Liebesunglück ja auch sicher noch unerträglicher gemacht hätte. Wann immer ich versucht habe, bei meinen Kollegen meine kleine Theorie vom Trost elektronischer Geräte anzubringen, habe ich bemerkt, daß man das für Zynismus hält, was ein Mißverständnis ist. Ich behaupte ja gar nicht, daß es für jede Situation ein passendes elektronisches Gerät als Trostspender gibt, und habe selbst schon herbe Enttäuschungen erlebt. Aber ich muß doch sagen, daß der Videorekorder, den ich an diesem Abend zu meinem eigenen Erstaunen mit nach Hause brachte, mir nicht schlecht geholfen hat.

Vielleicht wäre die Affäre nicht so glatt verlaufen, wenn es mir nicht auf Anhieb gelungen wäre, das Gerät anzuschließen. Innerhalb einer Stunde, nachdem ich es ungeduldig und gewaltvoll von Karton, Schaumstoff und Plastikfolie befreit hatte, waren nicht nur 29 Kanäle eingestellt, es war mir sogar schon gelungen, die „Heute“-Nachrichten auf der kostenlosen Probekassette aufzunehmen und beim Abspulen das Gesicht von Peter Hahne in einer ziemlich albernen Einstellung einzufrieren, in der beim Zwinkern ein Augenlid in der Manier von Salman Rushdie nachklappte. Nein, mag sein, das Ding würde heute, wie Millionen seiner Verwandten in deutschen Wohnzimmern, als superteure Quartzuhr sein Dasein fristen, und niemals hätten die blinkenden Signale der IHQ-Bandeinmessungsautomatik, des VPS-Systems und der OTR-Einstellung kleine Euphorieschauer in mir ausgelöst: Womöglich hätte ich – empfindlich und enttäuschungsanfällig, wie ich in meiner Lage war – keinen neuen Versuch gewagt, das Gerät gebrauchsfertig zu machen, wäre an diesem ersten Abend vor einem Jahr nicht gleich alles wie von selbst gegangen.

Aber so lag ich nun aufgeregt in meinem Bett im Nebenzimmer und konnte nicht schlafen vor lauter gespannter Erwartung, ob meine mit der birnenförmigen Fernbedienung erteilten Befehle auch ausgeführt würden. Ich hatte den Timer auf 01:35 eingestellt – es sollte auf Arte „La Belle Noiseuse“ geben, einen dreieinhalb Stunden langen Film von Jacques Rivette, der mich nicht besonders interessierte, mir aber als Test ganz recht war. Die Tür zum Schlafzimmer stand offen, damit ich die LED-Anzeige im Blick behalten konnte. Endlich begann das Display nervös zu blinken: REC REC REC. Mit einem Tierlaut, der mich von fern an das spielerische Jaulen kleiner Hunde erinnerte, schnappte sich mein gut abgerichteter neuer Freund die Kassette und tat wie ihm geheißen. Gleich morgen würde ich Mitglied in einer Videothek werden. Ich würde meine Kollegin von der Kinoredaktion fragen, wo sie sich ihren Stoff holte. Unter dem feinen, kaum mehr hörbaren Schleifgeräusch des Magnetbandes auf den Videoköpfen – jedenfalls, war das, was ich wahrzunehmen glaubte – schlief ich ein. [...]

*

Bis heute besitze ich nicht mehr als sechs Kassetten. Wenn man bedenkt, daß kaum ein Tag vergeht, an dem ich meinen Videorekorder nicht gebrauche, dann ist das recht wenig. Zu Anfang hatte ich mir vorge-

nommen,

mir ein kleines Privatarchiv meiner liebsten Filme anzulegen, um gegen fernsehprogrammbedingte beziehungsweise ausleihtechnische Durststrecken gewappnet zu sein. Ich habe das dann nicht getan. Nach ein paar Wochen hatte ich selbst Woody Allens „Husbands and Wives“, ganz oben in meiner privaten Walhalla, mit irgendeinem minoren Western- Stück von Anthony Mann überspielt, das ich nur aus Gründen der Vollständigkeit einmal gesehen haben wollte. Ich halte die Filme nur eine kurze Zeit bereit, um sie vielleicht ein zweites Mal anzuschauen. Dann werden sie – ohne Ansehen ihres ästhetischen Gehalts und meiner sentimentalischen Bindung – gnadenlos überspielt.

So stellt sich, oder: so stelle ich zwar nicht die alte Unverfügbarkeit des Films im Kino wieder her, die es einfach nicht mehr gibt [...]. Ich könnte mir ja viele der gelöschten Filme, wenn auch manchmal mit einiger Mühe, aus einer Videothek besorgen. Vielleicht zeigt mein Verhalten aber, daß die größere Verfügbarkeit durch Video [...] das Filmesehen gar nicht so grundsätzlich verändern muß. Sicher gibt es auch Video-Sammler, aber die sind eine Spezies für sich und haben mehr mit ihren auf Käfer oder Telefonkarten geeichten Kollegen zu tun als mit uns Filmsüchtigen. Man kann natürlich eine Videothek wie irgendeinen anderen Laden aufsuchen, um sich gezielt mit dem Gewünschten zu versorgen.

Man wird aber oft genug mit ungefähren Vorstellungen um die Regale streifen, in der Hoffnung, irgend etwas zu finden, das man dann plötzlich sehen muß – weil man es immer schon sehen wollte und nie die Gelegenheit hatte, oder, gerade umgekehrt, weil man es schon kennt und mit einem Male weiß, daß dieser Abend nur durch ein Wiedersehen mit dem „Glöckner von Notre-Dame“ – mit Charles Laughton als Quasimodo, der von den Kirchenzinnen herunter „Asyl, Asyl“ schreit, und Maureen O'Hara als Zigeunerin Esmeralda – gerettet werden kann.

Daß man nichts dergleichen findet oder das Gefundene sich zu Hause als falscher Film zur rechten beziehungsweise richtiger Film zur falschen Zeit herausstellen kann, solches Scheitern gehört zu den notwendigen Bedingungen des Videoglücks. Dieses Glück tritt nämlich, ganz wie das alte Kinoglück, in der Form des Ereignisses ein, und es ist ein Mißverständnis der Videokritiker, wenn sie glauben, der Videorekorder beraube das Filmesehen seiner Ereignishaftigkeit. Lieber noch als in meine ausgezeichnet sortierte Videothek, die übrigens nach einem medienkritischen Thriller von John Carpenter „Videodrom“ heißt und mit dem Camp-Slogan „Widerliche Filme für widerliche Leute“ wirbt, gehe ich in die Video-Abteilung der öffentlichen Bibliothek. Hier kann man ein paar tausend Filme, ein Großteil davon im Original, gebührenfrei für eine ganze Woche ausleihen, maximal vier zugleich. Was nach der Verfügbarkeitsthese ein Nachteil sein müßte, macht für mich gerade den Reiz aus: Niemals ist das ganze Programm simultan abrufbar, niemals bekommst du einen vollständigen Zugriff auf die Bestände. Du mußt manchmal lange warten, bis „Stagecoach“ von John Ford wieder ausliegt, und oft ist die komplette Marx-Brothers-Collection monatelang nicht im Angebot.

Oft mußte ich meine Pläne umschmeißen und irgend etwas anderes als das Gewünschte mitnehmen: auf diese Weise habe ich kürzlich „Pride and Prejudice“ mit Laurence Olivier und der bezaubernden Greer Garson kennengelernt – ein reines Vergnügen; und noch am gleichen Abend „Krieg und Frieden“ von King Vidor mit Audrey Hepburn und Henry Fonda – ein unerträglicher Schrott aus russischer Seele, Schneewehen und Schicksalsmelodie, den selbst die wie immer blitzschöne Hauptdarstellerin nicht mehr retten konnte. Meine Kenntnis des Werks von Jean Renoir habe ich ganz und gar der Gedenkbibliothek zu verdanken, und im Falle von Michael Ciminos „Heaven's Gate“ hat mich das mit einiger Skepsis mitgenommene Video zur Revision meines Kinogeher-Urteils gezwungen: Was mir im Kino seinerzeit als langweiliges, schlecht erzähltes, überambitioniertes Stück erschienen war, entpuppte sich als äußerst brauchbarer Videostoff.

Mein derzeitiger Verbrauch liegt zwischen vier und acht Filmen pro Woche, Tendenz steigend. Man kann Videokassetten in der Bibliothek – genau wie ausgeliehene Bücher – auch für sich vormerken lassen. Ich habe davon bezeichnenderweise noch nie Gebrauch gemacht, obwohl ich oft genug schon mit magerer Ausbeute davonziehen mußte. Auch das Videoglück bleibt, trotz aller Verfügbarkeit, an einen günstigen Augenblick (kairos) gebunden, in dem du eine seltsame Begegnung der dritten Art machst. Oder auch nicht: Gestern habe ich es nacheinander mit Elia Kazans „Viva Zapata“ (Marlon Brando als düster dreinblickender mexikanischer Revolutionär), Fritz Langs „Scarlet Street“ (E.G. Robinson als Bankkassierer, dem sich seine Sehnsüchte nach einem Künstlerleben auf fatale Weise erfüllen) und Peter Yates' „Bus Stop“ (Marilyn Monroe als herumgeschubste Bardame, die einen tumben Cowboy zähmt) versucht. Alle drei Filme waren mir auf ihre Art zuwider, und ich hatte sogar den Eindruck, daß man aus ihrem ausschließlich meiner Willkür geschuldeten Zusammentreffen etwas lernen könnte. Aber das ist dann fast schon wieder eine Sache für sich: Videoglück im Unglück.

Gekürzter Vorabdruck aus Der Alltag. Die Sensationen des Gewöhnlichen (Nr. 71) „Im Kino“, Elefanten Press Verlag Berlin, erscheint am 1. März, 25 DM