Die 46. Berliner Filmfestspiele waren entschlossen großformatig. Sowohl der Wettbewerb als auch die Retrospektive und das Forum des jungen Films waren mit US-Filmen gut bestückt. Und den dazugehörenden Stars. Auf ihre Kosten kamen aber auch die Liebhaber jener Arbeiten, die ihre Anziehungskraft entweder ihrem Herkunftsland verdanken oder berühmten Namen Aus Berlin Mariam Niroumand

Das Filmfestival als Wühltisch

Kaum haben alle, ob sie es nun zugeben mögen oder nicht, zufrieden die Laptops zugeklappt, da laufen schon wieder die ersten Hiobsbotschaften ein: Das Berlinale-Budget solle empfindlich gekürzt, das Forum gar gänzlich gestrichen, die letzte Filmprofessur in Berlin eingespart werden.

Bevor wieder Alarm im Sperrbezirk ausgerufen wird, ist jetzt doch wohl erstmal Partytime. Zu verzeichnen bleibt, daß diese 46. Berliner Filmfestspiele entschlossen großformatig waren. Man hatte den Vorwurf nicht gescheut, amerikanische Megamaschinen könnten zarte europäische Autorenpflänzchen platt walzen, und dementsprechend nicht nur den Wettbewerb, sondern auch alle drei Retrospektiven, einen Gutteil des Forums und des Panoramas mit US-Filmen bestückt.

Stimmt schon, nach wie vor war der Wettbewerb auch gespickt mit Beiträgen, die bestenfalls noch als Lachnummern funktionierten und ihre Anwesenheit entweder ihrem Herkunftsland (Korea, China, Deutschland) verdankten. Oder einem Thema („Mutters Courage“ und „Karwoche“ sind rasch mit dem Prädikat „Holocaust light“ beschrieben) oder einem Namen (Wajda). Andererseits hat die Berlinale eine Art Börsenfunktion: Dies alles gibt es also, Filmfest als Wühltisch.

Stars waren gekommen und hatten die Pressekonferenzen wieder zu Erlebnissen des Erhabenen werden lassen, daß man sich fühlte wie C. D. Friedrichs Mönch am Meer. „F---frau Roberts: Sie sind eine sch-sch-schöne Frau!“ (Ist sie gar nicht: Riesenmund). Weder Emma Thompson, noch Jack Lemmon oder Jodie Foster, noch Danny DeVito oder John Travolta ließen sich von Berlinale-Leiter Moritz de Hadelns ungehobeltem, muffeligem Esperanto verbellen.

Auch hatte diese Berlinale-Publikum (professionelles und freiwilliges) wie noch nie – nicht nur der Wettbewerb, sondern alle Programmschienen einschließlich der Wyler-, Lemmon- und Kazan-Retrospektiven. Und weil jetzt die Menschen nicht mehr getrennt ins Kino gingen (die Presse war in den letzten Jahren weit abgeschlagen im Haus der Kulturen der Welt untergebracht), sah man nun Zuschauer ihre Kritiker zur Rede stellen, in den Cafés am Zoo stand man und debattierte. Und wer selbst einen völlig unhofierten Film wie „Fallen Angels“ sehen wollte, der mußte sehr früh aufstehen.

Wenn wir jetzt noch einen Festivalleiter hätten, den man wie den Mostra-Leiter Gillo Pontecorvo auf eine Piazza setzen und unbeschämt ein elegantes Gespräch mit berühmten Damen führen lassen könnte, wären wir fast da ... Wenn man partout in die Menge von filmischem Stoff eine thematische Schneise schlagen wollte, müßte man wohl über die unterschiedlichen Typen von Biographien reden: Die Kunstbiographie des Diktatoren-Prototyps Richard III., klamottig und mit Panzer-Pulver- Dampf in die dreißiger Jahre Englands gezerrt, Oliver Stones „Nixon“, eine fantastische Montage der Entwicklung eines Überlebenden zum Paranoiker, und wie lange die Gesellschaft braucht, um den Unterschied zwischen nationalem Sicherheitskonzept und privatem Wahn zu erkennen – und das alles vor allem über Filmästhetik, nicht so sehr über Talking Heads präsentiert.

Dann natürlich die Geschichte des Willy Sommerfeld aus Golzow, Teil der Langzeitdokumentation von Barbara und Winfried Junge, die seit Jahren ihr 1961 begonnenes Projekt mit den Schülern einer Grundschulklasse im Forum vorstellen. Die Berlinale war immer das Festival des filmischen Ost- West-Austauschs, und die komplette Fremdheit des Beitrittsgebiet kann man hier wie nirgends sonst studieren. Die Art von Wilhelm-Busch-Pädagogik, die Junge sich auch dem Erwachsenen Sommerfeld gegenüber noch leistet, existiert hierzulande nur in ihrer Summerhill-geläuterten Version. So scheut er sich nicht, das unglückliche Ehepaar Sommerfeld zu fragen: „Nun sacht doch ma', was gefällt der Ingeborg noch an dem Willy und was dem Willy noch an der Ingeborg“, und diese Leute bemühen sich tatsächlich um Antwort („Dasse abnehmen will“, „dassa sparsam is“).

Oder die Langzeitdokumentation „Lange nach der Schlacht“, die in über drei Stunden den Abzug der russischen Armee aus dem brandenburgischen Dorf „Altes Lager“ zeigt. Hier wird nicht nur klar, in was für einer Symbiose Sowjetsoldaten und DDR-Bürger lebten, sondern auch, welche Haltung Ostintellektuelle wie die Filmemacher zu deren Biographien einnehmen: Etwas wie Identifikation einerseits und Schadenfreude über den Fall des großen Bruders andererseits liegt in der Luft, wenn die Regisseurin Regine Kühn sagt: „Die waren mal die Herren im Land und können jetzt froh sein, wenn man sie als Asylanten aufnimmt.“ – Die New Yorker Fotografin Nan Goldin stellt in „I'll be your mirror“ ihre Biograph als Überlebensgeschichte da, die eng mit dem Festhalten des vorbeirauschenden Partymoments auf ihren Bildern verküpft ist – im Licht von Hotelfunzeln erscheinen selbst blaugeschlagene Augen als Kunstprodukt.

Langsam aber öffnet das Festival auch seine Türen für Pulp Fiction: „Get Shorty“ zeigt Travolta als einen mit liebenswerten Manierismen ausgestatteten Mafioso, der sich mit dem großen internationalen Geldstrom nach Hollywood treiben läßt. Der filmisch aufregendste Berlinale-Beitrag „Fallen Angels“ von Hongkong-Regisseur Wong Kar-Wei braucht seine Protagonisten eigentlich kaum noch: Sie sind zufällig ein Killer und seine Assistentin, der Hauptakteur ist eine funkelnde, von Furien der Geschwindigkeit durchzogene und vielfach untertunnelte Stadt, eine Licht- und Schattenorgie.

Mit der Verleihung des Goldenen Bären an Ang Lees „Sense and Sensibility“ hat die Jury fast wie die Jury eines US-Gerichts entschieden – vom Chor der Kritik abgekoppelt, der völlig sicher war, daß „Dead Man Walking“ die früheren Maximen der Berlinale – politische Relevanz und Autorenschliff – am besten bedienen würde. „Sense and Sensibility“, die Verfilmung des gleichnamigen Jane-Austen-Romans präsentiert, ohne mit dem zarten Schmelz eines Merchant-Ivory-Films benetzt zu sein, Glanz und Elend des introvertierten Lebens. Emma Thompson, die das Drehbuch geschrieben hat, das englischen Regen wie auch grüne Hügel zum Weinen und Spazierengehen vorsieht, hat alle Protagonisten mit Attraktivität und unbekannten seelischen Hinterzimmern versehen – und mit einem eleganten Humor. Sowas versetzt einen in die glückliche Lage, auf Filme wie Dani Levys Langzeit-Interruptus „Stille Nacht“ gar nicht erst angewiesen zu sein.