„Diese riesige Menge an Menschen“

■ Hans-Heinrich Heinsen, der Einsatzleiter: Der Indianerpfeil zischte an mir vorbei und blieb im Bauwagen stecken

taz: Herr Heinsen, vor 15 Jahren standen Sie, umringt von Wasserwerfern, Hubschraubern, Bundesgrenzschutz und vielen tausend Polizeibeamten, auf dem Gelände des Atomkraftwerks Brokdorf. Was haben Sie erwartet?

Hans-Heinrich Heinsen: Wir waren sehr gut vorbereitet. Es war uns klar, daß viele tausend Demonstranten kommen würden. Wir hatten von den Polizeidienststellen der Länder genaue Informationen über die Zahl der Omnibusse. Das waren etwa 300 Busse, dazu kamen noch sechs oder sieben Sonderzüge und die vielen PKWs, die mit durchschnittlich drei Personen besetzt waren. In der Vorausberechnung lagen wir bei 50.000 Demonstranten.

In den Medien war eine regelrechte Bürgerkriegsstimmung entfacht worden. Sie mußten mit mordenden und brandschatzenden Demonstranten rechnen.

Natürlich gab es diese Berichte. Aber wir haben an überwiegend friedliche Demonstranten geglaubt, und das war dann ja auch so. Allerdings gab es auch 1.000 oder 2.000 potentielle Straftäter.

Einige Zeitungen hatten verbreitet, daß die Demonstranten mit Stahlkugeln schießen, mit Molotowcocktails werfen und daß „Polizisten getötet werden könnten“. Hatten Sie Angst?

Diese Szenarios haben uns nicht erschrecken können. Wir hatten schon ähnliche Situationen erlebt. Allerdings wurde dann tatsächlich mit Stahlkugeln und Silvester- Raketen gefeuert und mit Molotowcocktails gearbeitet.

Und es wurde am Bauzaun gerüttelt.

Ein Teil der Demonstranten ist zum Tor II gezogen und hat an diesem Tor gerissen. Es wurden auch Wurfanker geworfen. Ich habe aufgefordert, diese Handlungen einzustellen. Das hat die aber nicht sonderlich beeindruckt. Daraufhin habe ich Weisung gegeben zu räumen. Direkt neben mir, daran erinnere ich mich noch genau, wurde zu diesem Zeitpunkt ein Journalist von einem Stein getroffen. Er ging bewußtlos zu Boden. An meinem Kopf ist eine Art Indianerpfeil vorbeigezischt und in einem Bauwagen steckengeblieben. Der hätte mich treffen können. Wir hatten viele verletzte Beamte.

Hatten Sie in dieser aufgeputschten Stimmung nicht die Sorge, daß einer Ihrer Leute überreagiert und seine Pistole zieht?

Diese Sorge hatte ich zu keiner Zeit. In meinem Abschnitt waren ausschließlich geschlossene Einheiten, die gut trainiert und vorbereitet waren.

Wie hatte Ihre Vorbereitung konkret ausgesehen?

Wir haben unseren Beamten Filmaufnahmnen früherer Demonstrationen gezeigt. Wir haben dann unsere Einsätze richtig geübt. Ein Großteil der Beamten spielte die Demonstranten, ein anderer Teil die Polizei. Das haben wir mit echter Geräuschkulisse gemacht, wir haben das Vorrücken und Abziehen von Polizeiketten geübt. Die „Demonstranten“ haben sogar Brandsätze geworfen.

Haben Sie auch Parolen skandiert: Hopp, hopp, Brokdorf stopp?

Auch das. Alle uns bekannten Parolen wurden gerufen. Das Gewöhnen an den Lärm und die Hektik ist sehr wichtig, damit man hinterher gelassen bleibt.

Sie waren der Einsatzleiter. Wie sah Ihre Strategie aus?

Wir haben uns auf das Gelände zurückgezogen und wollten erst mal abwarten. Wir hofften, daß es die Demonstranten bei der Umwanderung des Bauplatzes belassen würden. Die Demonstration war also nicht statthaft. Für uns war die Rechtslage dadurch viel eindeutiger. Wir waren moralisch in der besseren Situation und konnten überall Sperren errichten und Kontrollen durchführen.

Wieviel Mann hatte die Polizei im Einsatz?

Zwischen 10.000 und 11.000 Mann. In meinem Abschnitt unmittelbar am Kernkraftwerk waren es 3.000 Beamte.

Unter den Polizisten gab es vermutlich auch viele Atomgegner. Hatten Sie Sympathie für die Demonstranten?

Es gab sehr viele Beamte, die daran zweifelten, ob der Bau dieses Kernkraftwerks in Ordnung ist. Viele waren auch der Meinung, daß die Demonstration an sich in Ordnung ist. Die Auswüchse und Gewalttätigkeiten wurden allerdings von niemandem gebilligt.

Mit Lichterketten und Händchenhalten allein kann man wenig beeinflussen. Grenzüberschreitungen sind manchmal notwendig?

Daß die Umwelt heute mehr geachtet wird, ist nicht das Verdienst der Gewalttäter, sondern der großen friedlichen Demonstrationen. Dieser große Zug, diese riesige Menge an Menschen, das war einfach beeindruckend. Ich saß auf meinem Aussichtspunkt und schaute in die Wilster Marsch. Und ich sah überall Menschen. Das hat mich wirklich beeindruckt, das kann ich nicht leugnen. Die Gewalt hat mich eher abgeschreckt, das war der falsche Weg.

Heute ist es sehr ruhig geworden. Großdemonstrationen hat es lange nicht gegeben. Fehlen Ihnen manchmal die Demonstranten?

Wir sind froh, daß es so ruhig ist. Es gibt auch heute noch Demonstrationen, zum Beispiel gegen Atomtransporte. Die haben aber nicht diese Brutalität. Wir kamen uns früher manchmal so vor, als wären wir die Angegriffenen. In Brokdorf gab es ja auch sonst nichts, was man hätte angreifen können. Da standen ein paar Baracken rum, ein paar Bohrtürme und ein großer Parkplatz. Angreifen konnte man nur uns.