Reisefreiheit für van Gogh

■ Ein Sammler behält recht gegen den französischen Staat: Kunstschätze dürfen ausgeführt werden. Schon bangt man in Paris um das „nationale Kulturerbe“

Das 64 mal 80 Zentimeter messende Ölgemälde hatte eine bewegte Vergangenheit hinter sich, bevor es am 6. Dezember 1992 in den Räumen der Pariser Auktionatoren Binoche et Godeau den Besitzer wechseln sollte. Die Ansicht einer zur Villa des Malers Charles-François Daubigny gehörenden Gartenecke mit Blumenkübel, die Vincent van Gogh im Juli 1890 kurz vor seinem Tod gemalt hatte, hing einst in der Sammlung des Berliner Sammlers Curt Glaser und in der Münchener Galerie Caspari. Das Bild gehörte dem Breslauer Sammler Leo Lewin, überstand den Krieg als Leihgabe im Rotterdamer Museum Boymans-Van-Beuningen und wanderte von dort in den Salon der New Yorker Sammlerin Alice Kurtz. Daß der französische Staat den van Gogh trotzdem zum „Monument historique“ erklärte — und damit auch die Ausfuhr verbot, kommt den französischen Finanzminister jetzt teuer zu stehen.

1952 nämlich hatte der damals in Marokko lebende Enkel des Architekten und legendären Kunstsammlers Jean Walter, Jacques Walter, das Bild für neun Millionen Francs in der New Yorker Knoedler Gallery erworben. Als er es wenig später an seinen Zweitwohnsitz Paris brachte, sicherte er diese Transaktion mit einer „zeitweiligen Einfuhrgenehmigung“, die stillschweigend halbjährlich verlängert wurde, für die Wiederausfuhr ab. Als Walter seinen van Gogh dann aber 1981 an seinen neuen Hauptwohnsitz Genf bringen wollte, verweigerte ihm das Kulturministerium die Ausfuhr unter Berufung auf das 1941 erlassene Gesetz zum Schutz nationalen Kunsterbes. Im Sommer 1989 schließlich folgte die Klassifizierung als „Monument historique“ – daß Gemälde unter Denkmalschutz gestellt werden können, war erst kurz zuvor möglich geworden.

Entsprechend mager fiel im Dezember 1992 das Auktionsergebnis aus. Internationale Van-Gogh- Sammler wie der griechische Reeder Stavros Niarchos, der in Lausanne lebende Tankerkönig Basil P. Goulandris oder der arabische Handelsagent Akram Oijeh steigerten gar nicht erst mit. Das Gemälde ging schließlich für umgerechnet 16,5 Millionen Mark an den französischen Bankier Jean- Marc Vernes, der es dem Staat als Schenkung gegen den Nachlaß von Erbschaftsteuer zusagte. Jacques Walter verklagte Frankreich auf Erstattung des durch das Ausfuhrverbot entgangenen Mehrerlöses und bekam nun nach unzähligen Gutachten und Gegengutachten in letzter Instanz recht: 145 Millionen Francs, rund 43 Millionen Mark, muß das Finanzamt auf Walters Konto überweisen – mehr als das Doppelte des jährlichen Ankaufetats aller staatlichen französischen Museen.

Mit diesem Urteil des Kassationsgerichtshofes fällt eine der letzten Bastionen der französischen Kulturpolitik. Bereits im vergangenen Jahr hatte die Europäische Union durchgesetzt, daß bislang nur von Monaco aus operierende internationale Auktionshäuser wie Christie's, Sotheby's oder Phillips künftig auch von Paris aus Zugang zum französischen Markt haben müssen. Das Walter- Urteil erlaubt nun faktisch außerdem den international längst üblichen Ausverkauf privater Sammlungen. Rund 80 Gemälden hat der französische Staat in den vergangenen 50 Jahren die Exportlizenz verweigert. Kunsthistorische Begründungen legte er dafür nur in den seltensten Fällen vor – wichtiger schien der materielle Wert der Objekte. Ihre Besitzer könnten sich nun nachträglich an die Gerichte wenden. Die Juristen müßten dann über den bei internationaler Auktion möglichen Höchstpreis für die Werke entscheiden. Erst im vergangenen Herbst gaben die Erben des Sammlers Robert Kahn-Sriber van Goghs „Sternennacht über der Rhône“ ans Musée d'Orsay. Die Höhe der dafür zu erlassenen Erbschaftsteuer legte der Staat selbst fest. Im Fall des „Gartens von Auvers“ ist das nun nicht mehr möglich. Das vom Gericht akzeptierte Gutachten setzte einen Marktwert von 25 Millionen Dollar fest. Der neue Besitzer, Jean- Marc Vernes, hat deshalb Anspruch auf einen Steuererlaß in Höhe von 200 Millionen Francs.

Als einen „Schaden für den Steuerzahler und die Rettung des französischen Kulturerbes“ bezeichnet entsprechend verbittert die Leiterin der Réunion des musée nationaux, Françoise Cachin, das Urteil. Von einem „Sieg der Bürger gegen staatliche Willkür“ spricht dagegen Jacques Walter. Der prozeßfreudige Kunstsammler überlegt, vom französischen Staat auch die hochkarätige und milliardenschwere Sammlung seines Großvaters zurückzuverlangen, die mit Werken von Cézanne, Renoir, Soutine und Picasso seit Jahrzehnten zur Begleichung der Erbschaftsteuer im Musée de l'Orangerie in den Tuilerien zu sehen ist: Frankreich habe sich der Sammlung nicht würdig erwiesen, dies sei seinerzeit aber eine Bedingung für die Schenkung gewesen.

Die Möglichkeit, die eigene Auktions- und Ausfuhrpolitik zu überdenken, bietet sich dem französischen Staat dagegen bereits am 19. März. An diesem Tag kommt bei Rieunier, Bailly-Pommery et Briest die Gemäldesammlung des Flugzeugbauers Henry Potez mit Werken von Gauguin, Renoir, Chagall, Pissaro und Sisley unter den Hammer – bislang steht keines der im Katalog aufgeführten 22 Werke unter Ausfuhrverbot. Stefan Koldehoff