Aufgewacht durch Tschernobyl

Der DDR-Führung wurden plötzlich die Risiken der Atomkraft bewußt. Und die Opposition begann langsam, sich mit dem Thema zu beschäftigen  ■ Von Toralf Staud

Berlin (taz) – Erich Honecker war stolz auf sich und seinen Staatsapparat: In der DDR habe es nach Tschernobyl keine Hysterie gegeben, protzte der Staatsratsvorsitzende einen Monat nach der Katastrophe, als er mit Hans-Jochen Vogel, dem damaligen Chef der SPD-Bundestagsfraktion, im Jagdschloß Hubertusstock zusammensaß. Die DDR-Führung habe alles im Griff.

Wahrscheinlich hat Honecker selbst daran geglaubt. Das Politbüro der SED war selbst lange Zeit nur oberflächlich über den Unfall von Tschernobyl informiert, erst vier Wochen nach der Katastrophe bekam die DDR-Führungsriege einen umfassenden Bericht auf den Tisch. Bis dahin, so das Ergebnis einer Untersuchung von Dorothée de Nève vom „Forschungsverbund SED-Staat“ an der FU Berlin, mußte sie sich auf die Informationen in den DDR-Medien verlassen.

Die waren äußerst spärlich und einseitig. „Im Kernkraftwerk Tschernobyl in der Ukraine hat sich eine Havarie ereignet“, erfuhren die Leser des SED-Zentralorgans Neues Deutschland am 29. April 1986 in einer unauffälligen Meldung auf Seite 5 – und damit immerhin einen Tag eher als die der taz. „Einer der Kernreaktoren wurde beschädigt. Es werden Maßnahmen zur Beseitigung der Folgen der Havarie ergriffen. Den Betroffenen wird Hilfe erwiesen. Es wurde eine Regierungskommission eingesetzt.“

Strahlung sank, ohne daß sie zuvor gestiegen war

Am Tag darauf wanderte das Thema immerhin auf die Titelseite des ND, doch der beschwichtigende Tonfall blieb. Zwei Menschen seien ums Leben gekommen, eine „gewisse Menge radioaktiver Stoffe entwichen“, die Situation habe sich „stabilisiert“. In der DDR werde die Radioaktivität ständig gemessen, teilte das Staatliche Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz (SAAS) mit, es bestehe „keine Gesundheitsgefährdung“. Beruhigt sollten die Bürgerinnen und Bürger zur Maidemonstration gehen und Fähnchen schwenken.

Auch die weitere Berichterstattung sollte vor allem für Ruhe sorgen. Einige Reportagen – aus der sowjetischen Prawda übernommen – berichteten von heldenhaften Taten sozialistischer Kollektive bei den Aufräumarbeiten in Tschernobyl. Meldungen von Störfällen in westlichen Atomanlagen relativierten die Katastrophe, den kapitalistischen Staaten wurde antisowjetische Hetze vorgeworfen. Paradox: Gefahren erwähnten die DDR-Medien immer erst dann, wenn sie gerade gebannt waren; die Strahlung ging zurück, ohne daß zuvor ein Anstieg gemeldet worden war. Und immer wieder: Es besteht „keinerlei Gefährdung für die Gesundheit der Bürger unseres Landes und für die Natur“.

Vieles spricht dafür, daß die SED-Oberen selbst daran glaubten und deshalb die Medien entsprechend lenkten. Die sowjetische Nachrichtensperre wirkte sich auch auf die DDR-Führung aus. Die Lagemeldungen der eigenen Wissenschaftler suggerierten ebenfalls eine harmlose Lage. Das SAAS hatte sofort nach Bekanntwerden der Explosion ein großangelegtes Meßprogramm gestartet und an 215 Punkten in der ganzen DDR die Radioaktivität erfaßt. Am 29. und 30. April zog die Wolke über den Osten und Südosten des Landes, der höchste Wert wurde mit 117 Becquerel pro Kubikmeter Luft in Berlin gemessen. Je nach Niederschlägen wurden im Boden bis zur 50.000 Becquerel pro Quadratmeter gemessen. Gemüse war mit bis zu 2.700 Becquerel pro Kilogramm belastet. Landesweit wurden mehr als 5.000 Milchproben ausgewertet, bis zu 1.000 Becquerel pro Liter gefunden. Die höchsten Werte gab es in den Bezirken Cottbus, Leipzig und Dresden. Doch die Wertung der DDR-Strahlenschützer: Die Radioaktivität, der die Bevölkerung ausgesetzt war, entsprach „dem doppelten Wert der natürlichen Strahlenbelastung im gleichen Zeitraum oder der Strahlenbelastung von drei Röntgenaufnahmen der Lunge“, heißt es in dem SAAS-Bericht vom 20. Mai 1986 an das Politbüro. Auf „Eingriffe in Produktion und Verteilung“ wurde verzichtet.

Das Politbüro verließ sich auf seine Wissenschaftler und beauftragte sie mit weiteren Forschungen. Eine Konsequenz waren radioaktive Tierversuche. In einem Bunker bei Storkow, etwa 60 Kilometer südöstlich von Berlin, wurden Schweine bestrahlt, um herauszubekommen, wie schnell nach einem Atomunfall sie geschlachtet werden müßten, um noch genießbar zu sein.

Obwohl es offiziell hieß, die Sicherheit der DDR-Atomkraftwerke brauche nicht überprüft zu werden, weil deren Reaktoren ganz andere als in Tschernobyl seien, hatte das Politbüro beim SAAS eine Untersuchung in Auftrag gegeben. Mit verheerenden Ergebnissen: In Rheinsberg, mit 70 Megawatt 1966 ans Netz gegangen, und in den Blöcken 1 bis 4 in Greifswald, je 440 Megawatt und seit Mitte der siebziger Jahre in Betrieb, sei die „Zuverlässigkeit geringer als bei gleichalten Kernkraftwerken kapitalistischer Länder“. „Nur die Beherrschung einer begrenzten Art und Anzahl von kleineren Störfällen“ sei möglich. „Wiederholt“ traten „gefährliche Risse“ auf, Reparaturen erfolgten „mit großer Verzögerung oder gar nicht“. Es bestehe „Kadermangel“, von „negativem Einfluß ist der fortbestehende akute Wohnungsmangel in Greifswald“.

Als Folge des Berichte wurde in Rheinsberg die Kontrolle der Betriebsmannschaften durch die Stasi angeordnet, in Greifswald standen die Reaktoren längere Zeit für Reparaturen still. Dadurch und weil die sowjetischen Energielieferungen durch den Ausfall von Tschernobyl um 70 Megawatt zurückgingen, mußten mehrere Kombinate ihre Produktion einschränken.

Illusorische Atompläne nach unten korrigiert

Durch Tschernobyl wurden der SED-Führung die Gefahren der „friedlichen Nutzung der Kernkraft“ erstmals bewußt, die traditionelle, euphorische Kombination von Sozialismus, Fortschritt und Atom wurde brüchig. Bis Tschernobyl wurden schwere Störfälle in sozialistischen Kernkraftwerken praktisch ausgeschlossen, weil dort nicht Profitinteressen, sondern das Allgemeinwohl die Arbeit bestimme.

Nach dem Tschernobyl-Schock korrigierte die DDR ihre hochfliegenden Pläne still nach unten. Ursprünglich hatte der Atomstromanteil von rund 10 Prozent 1980 auf 30 Prozent bis zum Jahr 2000 steigen sollen. 90.000 Megawatt installierte Leistung waren vorgesehen – bei den Schlampereien auf den Kraftwerksbaustellen ein ohnehin illusorisches Ziel. Bis 2030 sollte die Atomkraft sogar die Hälfte des Primärenergiebedarfes decken. Dafür waren „Kernheizwerke“ für die „nukleare Fernwärmeversorgung“ geplant, konkrete Projektstudien für Jena und Erfurt bereits fertig.

Bis Tschernobyl hatte sich die DDR-Oppostion nicht an die Atomkraft herangetraut. „Das war tabu“, erinnert sich Wolfgang Rüddenklau von der (Ost-)Berliner Umweltbibliothek. „Uns war klar, daß das der Hochsicherheitsbereich des Staates war.“ Spektakuläre Aktionen gab es auch nach 1986 nicht, wohl aber dezentrale Aktivitäten. Landauf, landab wurden Eingaben an die Behörden geschrieben, in den Umweltgruppen der evangelischen Kirche bildeten sich Energiegruppen, die dann von der Stasi unterwandert wurden. Auf den riesigen Informationsbedarf, den die offiziellen Medien nicht befriedigten, wurde mit getippten Handzetteln reagiert. Die vorsichtige Empfehlung der Blätter mit dem Schutzvermerk „Nur zum innerkirchlichen Dienstgebrauch“ lautete: zwei Monate auf Milch und Blattgemüse verzichten. Gespräche mit dem SAAS kamen nicht zustande oder verliefen in unfreundlicher Atmosphäre und endeten kläglich. Gegen das Informationsmonopol hatte die Opposition kaum eine Chance. Eine Veranstaltung im Januar wurde durch eine eigens angeforderte, laut keifende Ortsgruppe des staatlichen Frauenverbandes DFD gestört. Das größte Problem der Opposition war das fast vollständige Fehlen von unabhängigen Wissenschaftlern. „Wir wußten nicht, was wir machen sollten“, erklärt Achim Weber, der damals im Ökologischen Arbeitskreis der Dresdener Kirchenbezirke mitarbeitete. „Sogar aus dem Westen kamen ja widersprüchliche Informationen.“

Opposition forderte Volksabstimmung

Langsam entwickelte sich eine Anti-AKW-Bewegung, sie profilierte sich im Widerstand gegen ein viertes Atomkraftwerk in der Dahlener Heide bei Leipzig. Im Umfeld der evangelischen Kirchen entstanden einzelne Energiestudien. Ihr Konzept gegen die Atomkraft war vor allem Sparen – durch mehr Effizienz, aber auch durch Konsumverzicht. DDR-weit wurden für zwei Initiativen Unterschriften gesammelt. In der einen wurde eine Volksabstimmung „zum weiteren Umgang mit der Kernenergie“ gefordert, die Artikel 21 und 53 der DDR-Verfassung hätten diese ermöglicht. Innerhalb eines Jahres unterschrieben 1.113 Menschen – für die damaligen Verhältnisse eine große Zahl, weil das Bekenntnis nicht ungefährlich war. Eine offizielle Antwort gab es natürlich nicht. In dem zweiten Appell, „Tschernobyl wirkt überall“, wurde der Ausstieg aus der Atomkraft bis zum Jahr 1990 gefordert. Mit 400 Unterschriften wurde der Aufruf an die Volkskammer gesandt. Auch hierauf reagierte der Staat nicht.

Die Forderung erfüllte sich, als 1989 die „Wende“ kam.