Freud für Anfänger

Kerstin Spechts Althusser-Stück „Carceri“ im Werkraum der Münchner Kammerspiele  ■ Von Vera Botterbusch

Welch eine Schlagzeile! Louis Althusser, Philosophieprofessor an der Ecole Normale Supérieure in Paris, Mitglied der Kommunistischen Partei und einer der führenden intellektuellen Linken Frankreichs, erwürgt seine Frau Hélène. Welch ein Drama, welch ein Theaterstoff. Stellt sich doch die Frage nach der psychischen Konstitution eines Menschen, der einerseits sich selbst und seinen Ideen, seinem gesellschaftlichen Engagement treu bleibt bis in den Tod. Und der andererseits plötzlich austickt, die Beherrschung über sein Denken, Fühlen und Handeln verliert, den Menschen tötet, der ihm am nächsten steht und damit das Band zur Gesellschaft durchschneidet.

Wer war Louis Althusser, als er 1980 im Alter von 62 Jahren diese tragische Tat beging, für die ihn kein Gericht verurteilte, weil man ihn für unzurechnungsfähig erklärte. Statt dessen kam er in die Psychiatrie. Dort verbrachte er bis zu seinem Tod die nächsten zehn Jahre und beklagte den fehlenden Prozeß. Er wollte öffentlich zur Verantwortung gezogen werden. Kerstin Specht hat nun in ihrem neuesten Theaterstück „Carceri“ versucht, einen Schlüssel zu finden für Althussers Mordtat, und bedient sich dabei gängiger psychologischer Erklärungsmuster: Freud für Anfänger.

Da ist zunächst die Übermutter, mit bildungs- und besitzbürgerlichem Liebesdrang, von Doris Schade als überbehütende und erdrückende „Mutti ist immer für dich da mein Schatz“ gruselig lebensnah auf die Bühne gebracht. Sie braucht die Lebenslüge, um mit ihrer eigentlichen Egozentrik und Lieblosigkeit zurechtzukommen. Sie verfolgt den Sohn mit ihren guten Ratschlägen bis in die psychiatrische Anstalt und verweigert den Blick auf die Tatsachen. Da ist zum anderen der junge Rumäne Sorin, Althussers Zimmergenosse, ein malender Prolet und potentieller Triebtäter. Christian Lersch spielt ihn als primitiven und brachialen misfit und zuweilen geifernden Psychopathen, der gegenüber dem Altkommunisten Althusser die Opferrolle der Arbeiterklasse leicht süffisant auskostet. Zwischen diesen beiden bewegt sich Althusser als schwindelnder Traumtänzer, dem die Tragweite seiner Tat nicht zu Bewußtsein kommt und der mit dem Blick auf die Weltzusammenhänge das Gefühl für die Realität verloren zu haben scheint. Manfred Zapatka versieht ihn mit dem oft hilflosen und ergebenen Lächeln eines Menschen, der es allen recht machen möchte. Keine Verzweiflung, keine Wut, kein Protest: „Der Tod ist süß. Das Leben ist der Schrecken ohne Ende.“ Wie unbeteiligt versucht er sich die Pulsadern aufzuschneiden und läßt sich dann willig vom Pfleger verbinden und an einen Stuhl festschnallen. Aber in dem Maße, in dem sich das oberflächliche gut meinende Geschwätz seiner Mutter wie eine klebrige Masse auf ihn legt und sich Sorins Aversion gegen ihr neunmalkluges Erziehungsgehabe immer heftiger artikuliert, öffnen sich bei Althusser kurz die Schleusen des Widerstands: „Ich habe das Äußerste getan.“ Doch auch diese Regung verebbt in der Autoaggression. Zum Mörder dieser Mutter wird schließlich Sorin.

Kerstin Specht hat ein intellektuelles Sprechstück geschrieben, das mit kühlen Sentenzen und einigen populärpsychologischen Platitüden Erklärungen und Begründungen für eine menschliche Katastrophe sucht, die sicher nicht in die Gleichung Mutter = Partei = Ehefrau zu zwängen ist. Der Titel „Carceri“ spielt an auf eine Kupferstichserie von Giovanni Batista Piranesi aus dem 18. Jahrhundert. Für Kerstin Specht versinnbildlicht sie wohl die „Gefängniswelten“ jedes einzelnen, in denen das Selbst verstrickt ist, exemplarisch dargestellt am Schicksal Louis Althussers. Doch dieser gedanklichen Vorgabe fehlt die sinnliche Konkretion, fehlt die dramatische Verdichtung, die zu Ergriffenheit und Katharsis führt. Zu erfahren sind die Wahnvorstellungen eines Wohlerzogenen, die den Fakt des Mords auf den Ausrutscher eines Angepaßten reduzieren. Die existentielle Not eines in sich Verfangenen und Gefesselten, dem die moralische Sprunglatte so hoch liegt, daß er nur „unten durch“ stürzen kann. Vielleicht wollte die Autorin zu viel: Die These von Althussers menschlichem und politischem Scheitern in der Gleichsetzung von Partei und Mutter bleibt doch zu sehr reine These, hier und da noch angereichert durch allgemeines Bildungsgut und sich kritisch gebende gängige Klischees über den Zustand der Psychiatrie. Sicherlich tut dazu die eher vordergründige Inszenierung von Christian Stückl im karg-sterilen Bühnenbild von Alu Walter noch ein übriges. Zwar werden die herben Abläufe, die permanente Entmündigung im Leben eines für unzurechnungsfähig Erklärten angedeutet, aber das Maß an demütigender Trostlosigkeit wird mehr demonstriert als von innen her begriffen. Stückl hat sicher zu Recht und bewußt, gebremst auch durch den verhaltenen Text, auf theaterwirksame Ausbrüche verzichtet, aber er hat dabei auch den doppelten Boden verloren, der das Wirkliche zum Wahn und den Wahn zur Wirklichkeit werden läßt. Aber hier bedingen sich die Grenzen des Stücks und der Inszenierung wohl gegenseitig. Denn die Deutung der Mordtat Althussers als einer durchaus bewußten, weil für ihn wohl einzig möglichen Handlung, um das Schlamassel seines Lebens zu durchbrechen, wäre auch denkbar. Ging es ihm danach doch immer wieder darum, für zurechnungsfähig erachtet zu werden, um dafür öffentlich, vor Gericht, die Rechnung, das heißt den Schuldspruch präsentiert zu bekommen. Ob sich in Althussers Scheitern auch das des Kommunismus und der Kommunistischen Partei spiegelt, bleibt als Frage.

„Carceri“ von Kerstin Specht. Regie: Christian Stückl, Bühne und Kostüm: Alu Walter. Mit: Doris Schade, Christian Lerch, Manfred Zupatka. Weitere Vorstellungen heute und am 26. März.