Nach den Broschüren schnell noch Europa eintüten

■ Beim „Charlottenburger Frauenfrühling“ wiegt vor allem das Infomaterial schwer

Frauen mit Stapeln von Info- material unterm Arm, Mädchen mit bunten Broschüren, Mütter mit berstenden Buggies voller Kinder und Taschen. Beim Aktionstag im Rathaus Charlottenburg, der dieses Jahr nun schon zum vierten Mal den „Charlottenburger Frauenfrühling“ einleitet, haben die Frauen das Heft in der Hand.

Hunderte von Besucherinnen und auch einige wenige Besucher drängeln sich an den Ständen von rund sechzig Institutionen und Initiativen. „Hier kriegt man Materialien, die man sonst entweder gar nicht oder nur nach langen Wegen und vielem Warten bekommt“, schwärmt die Veranstalterin in Gestalt der Charlottenburger Frauenbeauftragten Brigitte Kippe (CDU).

In der Tat. Der Tisch des Bundesfrauenministeriums biegt sich unter all den Broschüren, die zur Feier des Tages kostenlos verteilt werden. Allesamt hochinteressante Schriften: „Abbau von Beziehungsgewalt“ verheißt eine Studie.

In einem anderen Heft geht es um die „Ergebnisse der zweiten repräsentativen Bevölkerungsumfrage zur Gleichberechtigung in Deutschland“. Ihr können wir entnehmen, was unter deutschen Dächern in deutschen Küchen und Bädern los ist: In 80 von 100 Haushalten putzt die Frau allein, in 14 schwingen beide den Feudel, in vieren schuftet eine Reinigungskraft, und in ganzen zwei kehrt der Mann allein den Dreck vor der Tür.

Die Frau hinter dem Stand kommt mit dem Stapeln gar nicht mehr hinterher, so schnell gehen die Broschüren weg. Das Anti-Gewalt-Material, so sagt sie, erfahre die größte Nachfrage: „Leider. Das ist ja schon ein Gradmesser für den Bedarf.“

Am Tisch der Europäischen Kommission herrscht ähnliches Gedrängel. Frauen schnappen sich die Broschüre zum EU-Frauenförderprogramm und stecken sie sich in ihre neue nachtblaue EU-Plastiktüte. Die EU-Schlüsselanhänger und EU-Luftballons bleiben etwas länger liegen.

Die Überraschung, mit der die „Beratungsstelle für sexuell übertragbare Krankheiten“ aufwartet, ist dagegen ganz anderer Art. Täglich gehen 1,2 Millionen deutsche Männer zu einer Prostituierten, so ist auf ihrer Stelltafel zu lesen. Pro Jahr geben diese Männer an die 12,5 Milliarden Mark für insgesamt 250 Millionen sexuelle Dienstleistungen aus. Die Mitarbeiterinnen der Gesundheitsbehörde haben deshalb eine Unterschriftenliste für einen Gesetzentwurf ausgelegt, mit der die für das Bruttosozialprodukt so wichtige Prostitution endlich als normaler Beruf anerkannt werden soll.

Neben den offiziellen Institutionen und Ämtern präsentieren sich auf zwei blumengeschmückten Stockwerken des Rathauses von der AG City bis zur Zukunftswerkstatt Köpenick viele weitere Initiativen. In diesem Jahr aber riecht es nicht nur nach Primeln, sondern auch nach weiblicher Angst um einen Arbeitsplatz.

In den acht Workshops, die parallel in den Sitzungssälen stattfinden, ist die Arbeitswelt das Hauptthema, und in den Fluren ärgern sich die Vertreterinnen zahlreicher Qualifizierungs- und Berufsbildungsprojekte, daß die EU soviel und sie nur sowenig Geld für ihre Infoblättchen haben. Was aber auch Vorteile hat: Der Rucksack der Berichterstatterin, dessen Gewicht von 200 Gramm auf 4,5 Kilogramm anschwoll, wäre nicht mehr tragbar gewesen. Ute Scheub