Warum hat er nicht einfach nachgesehen?

■ Die Greta-Garbo-Biographie von Barry Paris ist ein Anekdoten-Buch geworden

Im Mai 1968 gab der Filmregisseur George Cukor in seinem Haus in Hollywood ein kleines intimes Abendessen zu Ehren von zwei weltberühmten Damen reiferen Alters. Neben drei unbedeutenden Herren speisten Seite an Seite die beiden Ehrengäste: Mae West in einem enganliegenden, mit Pailletten und Blumen bestickten Abendkleid, Greta Garbo in einem schlichten rosa Hosenanzug. Beim Aperitif – das Gespräch kreiste um Ernährungs- und Fitneßfragen – war die Garbo noch schweigsam, beim Essen wurde sie zutraulicher. Ihrer Kollegin zugewandt sagte sie Dinge wie: „Oh, schaut euch nur ihre kleinen Hände an – keine Flecken! Schaut euch ihre Arme an!“ Woraufhin Mae mit ihrer für jede Anzüglichkeit geschulten Stimme fortfuhr: „Ja, und sie reichen bis ganz oben hin!“

Es gibt viele Anekdoten dieser Art in Barry Paris' Garbo-Biographie. Diese stammt von Mae West. Paris ist mit seinem Buch ein kleines Wunder gelungen: Er schreibt siebenhundert Seiten über die Garbo – und vielleicht sieben sind von ihm. Statt „Garbo – Die Biographie“ sollte es „Das große Garbo-Anekdotenbuch“ heißen.

„Abgesehen von ihrem Aussehen, wissen wir über die Garbo nur wenig mehr als über Shakespeare“, meinte der Filmkritiker Kenneth Tynan. Sie selbst hat rein gar nichts dazu getan, etwas Licht ins Dunkel zu bringen. Im Alter von 19 Jahren verweigerte sie der entrüsteten amerikanischen Öffentlichkeit Informationen aus ihrem Privatleben mit den Worten: „Ich wurde geboren. Ich hatte eine Mutter und einen Vater. Ich wohnte in einem Haus. Ich ging zur Schule. Was hat das schon zu bedeuten?“ MGM, die sie unter Vertrag hatten, machten notgedrungen aus der Not eine Tugend und verkauften ihren bockigen Star als „geheimnisvoll“. Wenn die Garbo einmal Interviews gab, (kaum mehr als zehn in ihrem ganzen Leben) wurde alles nur schlimmer. Sie wollte sich einfach nicht wie ein normaler Hollywoodstar benehmen. Katherine Hepburn berichtet, wie sie der Garbo ihr neues Haus zeigte. Als die beiden im Schlafzimmer standen, ging die Garbo „zu meinem Bett, auf dem eine Wärmflasche lag. Sie sah mich an, strich über das Ding und seufzte: ,Ja, ich habe auch eine. Was ist nur los mit uns?‘“ Die Garbo sagte Dinge, die selbst für Rin Tin Tin geschäftsschädigend gewesen wären.

Es gibt also wenig authentisches Material. Dafür war jeder, der sie kannte, nur zu bereit, über die Garbo zu sprechen. Ob Liebhaber, Geliebte, Haushälterin, Schauspieler, Regisseur oder Komparse: Wer immer mit ihr zu tun hatte, erzählte der Presse früher oder später von diesem Erlebnis. Selbst als sie kurz vor ihrem Tod – 49 Jahre, nachdem sie ihren letzten Film gedreht hatte – ins New York Hospital eingeliefert wurde, lauerte ein Fotograf, Ted Leyson, auf sie. Es gibt einige indiskrete Fotos in Paris' Buch, aber dieses Foto, von dem er schreibt, „sie war zu schwach, um sich noch zu wehren – außer mit den Augen: Auf diesen letzten Aufnahmen zeigt sie ihm mit starrem Blick ihre ganze Verachtung“, dieses Foto ist nicht zu sehen.

Die Lage eines Garbo-Biographen ist prekär, wie Paris dem Leser immer wieder zu verstehen gibt. Wie soll man eine Biographie schreiben über jemanden, der es sein ganzes Leben lang abgelehnt hat, sein Privatleben zu offenbaren? So unangenehm, als würde man den letzten Willen einer Toten mißachten. Ein Biograph könnte sich darüber hinwegsetzen und sagen: Teufel auch, sie war eine wichtige Person, und ob sie es wollte oder nicht, ich werde über sie schreiben. Dieser Entscheidung hat Paris sich ängstlich entzogen.

In Paris' Biographie ist die Garbo eine Frau mit tausend Gesichtern – etwa so viel, wie der Index Namen aufweist. Die Erklärung zu diesem Verwirrspiel liefert Paris in seinem Vorwort: „Roland Barthes bezeichnete die Biographie als ,einen Roman, der sich selbst nicht beim Namen zu nennen wagt‘, und lehnte ihn wegen einer ,irreführenden Vereinheitlichung des Subjekts‘ ab. Also war die einzige Lösung, falsche ,Schlüssigkeit‘ zu vermeiden, auch wenn ich damit die Mißbilligung derer provoziere, die in einer Biographie geschilderte Menschen am liebsten kategorisieren.“

Theoretisch gibt es natürlich die Möglichkeit, eine Person zu beschreiben, ohne sie zu kategorisieren. Mr. Paris wollte dieses Risiko nicht eingehen. Er zitiert lieber. Die Folge ist, daß selbst die Schuhgröße der Garbo zu einem Rätsel aufgeplustert wird, denn jeder sagt etwas anderes. Wenn dieser Punkt so wichtig ist, warum hat er dann um Himmels willen nicht einfach nachgesehen? Es wird doch wohl noch einige Schuhe von ihr geben!

Tatsachen gibt es für Paris nicht. Darüber kann man sich manchmal amüsieren, wenn er schreibt: „Seit dem Ende der zwanziger Jahre bis hinein in das neue Jahrzehnt war sie in etwas, was man ,Film‘ nannte, ,Garbo, der Star‘ gewesen“, als wäre unklar, ob es die Tatsache ,Film‘ oder das Phänomen ,Garbo, der Star‘ tatsächlich gab. Meist ist diese Methode jedoch von einer Perfidie, die Paris vielleicht nicht mal beabsichtigt hat: So erklären die meisten Freunde der Garbo, daß sie für Sex nicht viel übrig hatte. Das hindert Paris nicht, Cecil Beatons häßliche kleine Klatschgeschichte, die Garbo habe bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs einen Soldaten in ihr Schlafzimmer abgeschleppt, mit den Worten zu kommentieren: „Vielleicht war es so, vielleicht auch nicht.“ Paris, die ehrliche Haut, weigert sich entschieden, die Geschichten anderer zu kommentieren. Er nennt das: „falsche Schlüssigkeit“ produzieren. Ich würde es Faulheit nennen.

Mir hat übrigens jemand erzählt, in Wirklichkeit habe niemand mit Paris reden wollen. Die Zitate seien alle aus Zeitschriften abgeschrieben. Vielleicht war es so, vielleicht auch nicht. Anja Seeliger

Barry Paris: „Garbo. Die Biographie“. Europaverlag Wien-München 1995, 703 Seiten, 78 DM.