piwik no script img

Unterm Strich

High-noon für die deutsche Rechtschreibreform: Gestern, Punkt 12.00 Uhr mittags, endete die Einspruchsfrist der Länder für das umstrittene Reformwerk. Eigentlich hatten die Ministerpräsidenten bei ihrem letzten Treffen mit dem Bundeskanzler am Kamin die wichtigsten Neuerungen üben wollen, bevor sie ihren Segen geben. Ein Chef einer Staatskanzlei hatte bereits alles vorbereitet und für jeden Regierungschef einen extra Testbogen zusammengestellt. Doch die dramatische Haushaltslage in Bund und Ländern und der Steuerstreit nahm so viel Zeit in Anspruch, daß auf die Rechtschreibübung verzichtet wurde.

Dabei hatten die Ministerpräsidenten in den vergangenen Monaten alles getan, um im öffentlichen Disput um das Reformwerk die Lufthoheit über die Stammtische zu gewinnen. Denn statt nach zehn Verhandlungsjahren mit Österreich und der Schweiz nur noch die Unterschrift unter das mehrfach abgestimmte Papier zu setzen, erfanden die Regierungschefs vor laufenden Fernsehkameras die schauerlichsten Beispiele, die von den Experten gar nicht gewollt waren! So glänzte Heide Simonis mit einem „Scheff“ statt „Chef“. Und Edmund Stoiber setzte mit der Wortschöpfung „Koboi“ statt „Cowboy“ einen drauf. Auch die „Filosofie“, die immer wieder durch die Medien geisterte, war bereits in einer frühen Phase der Reform zu den Akten gelegt worden. Die Resolutionen einiger CDU-Landtagsfraktionen, die die Beratungen über die neue Rechtschreibung in ihre Parlamente holen wollten, blieben Sturm im Wasserglas.

Ohnehin zeigt sich das Reformwerk bei näherem Hinsehen maßvoller als oft dargestellt. Nur 185 der insgesamt 12.000 Wörter des Grundwortschatzes werden geändert. Insgesamt wird die Rechtschreibung systematischer, bisher scheinbar Unlogisches beseitigt und vieles der mündlichen Aussprache angepaßt. Aus den 212 Rechtschreibregeln werden 112. Schüler können frohlocken: Von 57 Komma-Regeln bleiben nur noch neun. Vieles, was die Experten eigentlich ändern wollten, bleibt erhalten. So behält der Thron erneut sein „h“. 1901, bei der letzten Reform, als man Thür und Thor das „h“ nahm, war der Kaiser dagegen. Diesmal sträubten sich die Landesfürsten.

Die ursprüngliche Absicht, eine gemäßigte Kleinschreibung auch in der deutschen Rechtschreibung einzuführen, scheiterte an der deutschen Einigung. Die Schweizer, die Österreicher und die DDR wollten sie ursprünglich. Doch nach der Einigung überstimmten die Westdeutschen ihre Ostkollegen. Damit war es mit der Kleinschreibung vorbei. Schweizer und Österreicher ertrugen mit unendlichem Langmut die anderen deutschen Änderungswünsche. Gibt es wirklich keinen Einspruch mehr, soll im Sommer ein Staatsvertrag mit den Nachbarländern geschlossen werden, der das Reformwerk besiegelt.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen