Kontemplation und Kaputtsein

Hält viel, aber nicht unbedingt, was sie verspricht: Die Ausstellung „Sex & Crime“ im Sprengel Museum Hannover versammelt kalte, resignative, brave und vernünftige Stilisierungen der Verhältnisse von Menschen  ■ Von Ina Hartwig

Nicht immer weiß man, warum einen plötzlich eiskalt erwischt, was man schon oft relativ unberührt hingenommen hat. Mit den akkuraten sadomasochistischen Studio-Inszenierungen Robert Mapplethorpes, die zur Zeit in einer Ausstellung mit dem Titel „Sex & Crime“ in Hannover zu sehen sind, ist es mir so gegangen. „Joe“ (1978) heißt eine der gerahmten quadratischen Schwarzweißfotografien, doch der ist gar nicht zu sehen. Statt dessen hat sich irgendwer von Kopf bis Fuß in schwarzes, enganliegendes Leder gezwängt. Die Augen sehen aus wie Insektenaugen; aus dem Mund führt ein dünnes langes Rohr; um den Hals ist ein genietetes Hundeband, am Kopfende ein kräftiger Ring angebracht. Wenn das totale Kostüm Ausdruck einer Lust ist, dann besteht diese Lust darin, hinter seinem Namen zu verschwinden, mehr noch: völlig ausgelöscht zu werden.

Eine Art Gegenentwurf zu den kontrollierten Phantasmen Mapplethorpes sind die farbenfrohen Nachtbilder von Nan Goldin. Tätowierte, immer leicht schmutzige, geschminkte und prinzipiell unausgeruhte Frauenhaut ist die Ikone dieser Blitzlichtbilder. Das Kaputtsein auszuhalten, gibt offenbar den entscheidenden Kick: ihm gilt die Stilisierung. Die Fotoserie „Cookie Mueller“ verfolgt die Jahre 1976 bis 1989 und zeigt ein losgelassenes weibliches Tier Mensch namens Cookie, das sich mit Haut und Haaren seiner Selbstzerstörung mit Hilfe von Alkohol und Zigaretten und garantiert noch anderen Drogen hingibt – um am unausweichlichen Schluß des Portfolios tot im Sarg zu liegen.

Einen weiteren ästhetischen Umgang mit Körpern liefert Larry Clarks „Tulsa“-Zyklus aus den 60er Jahren. Keine Inszenierung: Aus einem blaugeschlagenen Auge sieht eine dickliche Frau ihren Freund (dessen Rücken Clark zugewandt ist) an. Was macht ihren Blick so ruhig? Auf einer anderen Fotografie sitzt dieselbe, jetzt hochschwangere Frau am Fenster, vom hereinfallenden Tageslicht mild beleuchtet. Das vermeerhafte Arrangement wird gestört durch die Spritze, die sie sich gerade setzt. Zwei Bilder weiter sieht man in einem geöffneten Sarg ein Neugeborenes liegen.

Nicht bis ans rituelle Ende geht Andres Serrano, der im Leichenschauhaus ausschließlich Todeswunden fotografiert: Mögliche Lebensgeschichten treten hinter die Kadaver zurück.

„Sex & Crime“, informiert Ulrich Krempel im Katalogvorwort zur Ausstellung, sei die „Kennzeichnung von Filmen (seltener von Zeitschriften) mit ausgeprägter sexueller und krimineller Komponente“: Definition des Duden, Auflage 1995. Krempel will uns klarmachen, daß die Mediengesellschaft an einer Bilderflut leide, die sie mit zuviel Wissen von zuviel Grausamkeit belaste, daß aber andererseits und glücklicherweise die Kunst dem Moralverfall entgegenarbeite („Kunst gewinnt die Handlungsfähigkeit in der Subjektivität zurück“). Die kulturpessimistische Leier in Kombination mit adornitischer Kunsteuphorie vermag genausowenig wie der erwähnte lexikalische Hinweis ein überzeugendes Konzept der Ausstellung zu formulieren. Daß sie dennoch interessante Werke versammelt, liegt an kuratorischer Intuition.

Meistens amerikanische, darunter etliche New Yorker Künstler sind vertreten (einziger Deutscher: Jochen Gerz). Das leuchtet angesichts der Themenstellung nicht unbedingt ein. Aber da es nun einmal so ist, kann man sich über die Zusammenstellung kaum beklagen – jedenfalls nicht in dem (im Vergleich etwa mit der Pariser Ausstellung „fémininmasculin: le sexe de l'art“) eher bescheidenen Rahmen. Ein Künstler allerdings fehlt definitiv: Mike Kelley, dessen Verhältnis zum eigenen Körper von durchtriebenem Ekel bestimmt ist.

Natürlich versteht auch Cindy Sherman etwas von dieser gewissen Sensibilität, aber gerade die in Hannover gezeigten Arbeiten lassen das Sujet des Widerlichen vermissen. Ihre Montage von Pornopuppenteilen trägt die politisch korrekte Botschaft schreiend deutlich vor sich her (Entfremdung, Partialisierung!) und wird hierzulande wohl niemanden erschrecken können. Mit pornographischem Kommerz – und wie er ins Leben eingreift – setzt sich ebenfalls die 1954 geborene Sue Williams auseinander, doch gelingt ihr ein unerwarteter Witz. In der Mitte ihres ovalen, rosa dominierten Peepshow-Gemäldes liegt, mit absichtlich ungelenken Strichen gemalt, eine Frau mit weit gespreizten Beinen. Um sie herum versammelt: eine Mannschaft Masturbierender. Auf dem Deckchen, auf dem das Objekt der Begierde liegt, steht: „I'm free because I'm paid“. Williams bestätigt meinen Verdacht, daß die Zeit der dramatisierenden Pornographiekritik ihrem Ende entgegengeht.

Der Erfolg des Tokioters Nobuyoshi Araki läßt die kommende Tendenz ahnen: die Abschaffung des Überbaus. Die in Arakis kühnen, propperen und heiteren Fotografien inszenierten perversen Phantasmen japanischer Damen wirken deshalb nicht bedrohlich, weil sie kein SM-typisches Gefälle aufweisen. Araki tut nichts weiter, als den schönen Frauen, die freiwillig zu ihm kommen, die Möglichkeit zu geben, von ihm fotografiert zu werden. Eine luxuriöse Eitelkeit, gewiß. Doch jede Fesselung scheint ohne innere Hitze zu geschehen. Im unsichtbaren Zentrum des Geschehens steht der Künstler als entspannter Mensch.

Trotz (oder wegen) ihres ehrgeizigen Untertitels „Von den Verhältnissen der Menschen“ klärt die Ausstellung nicht, nach welchen artistischen oder politischen oder sozialen Regeln sich Sexualität mit Gewalt beziehungsweise Kriminalität mischt. Wuchert die Gewalt in der Abhängigkeit sexueller Gier von Fetischen der Brutalität? Die Fotoinszenierungen von Mapplethorpe bejahen, die von Araki verneinen die Frage.

Die stressig lärmende Installation von Tony Oursler schlägt in jene anthropologische Kerbe, die besagt, daß Frauen libidinös in die Gewalt der Männer verstrickt sind. Eine Frau, die von ihrem Mann vergewaltigt wird, schwankt zwischen Verzweiflung und Lust; ihr verzerrtes Gesicht erscheint als Super-8-Filmprojektion auf einem Stoffpuppenkopf, das Gesicht des Mannes auf einem anderen. Daß die monotonen Lautsprecherstimmen des abgewrackten Paars einen bis in jede Ecke der Ausstellung verfolgen, ist in bezug auf Gilles Peress' ernsthafte Arbeit über Ruanda extrem fühllos.

Doch hier scheint die Ratlosigkeit der Besucher regelrecht eingeplant zu sein. Ehe man sich fragen kann, was das ruandische Elend mit Sexualität zu tun hat (nämlich nichts), ist man schon davon eingefangen. Peress hat querformatige Schwarzweißfotografien, die er im Sommer 1994 in Ruanda gemacht hat, mit abfotografierten Schreibmaschinenseiten kombiniert. Entstanden ist eine Art Tafelwerk, doch ohne technische Feierlichkeit: Die metergroß gezogenen Abzüge hängen lose an der Wand.

Kommentieren sich Bilder und Text? Ja, weil es zwei verschiedene Sprachen sind, die dieselbe Sorge teilen. Bei dem Text handelt es sich übrigens nicht – wie viele zunächst denken – um die Menschenrechtskonventionen. Vielmehr um einen Expertenbericht, der im Auftrag der Vereinten Nationen zu dem Zweck erstellt wurde, die in Ruanda zwischen dem 6. April und 15. Juli 1994 begangenen Verbrechen juristisch zu fassen, genau: zu klären, ob und in welchem Sinne es sich um Verbrechen gegen die Menschlichkeit beziehungsweise um Völkermord handele. Nicht die strafrechtliche Herleitung, aber die Antwort ist einfach.

Da zwar hauptsächlich die Hutu gegen die Tutsi gewütet haben, doch andererseits auch Tutsi gegen Hutu, weiß man nicht mit Sicherheit, zu welchem Stamm die von Peress fotografierten Leichen und überlebenden Opfer gehören (man vermutet natürlich, zu den Tutsi). Auf einer Fotografie ist der Torso eines Mannes mit einem schlimm aufgeplatzten und zugeschwollenen Gesicht zu sehen. Seine dunklen Augen tränen. Die prächtige rechte Hand ist unbeschädigt geblieben und liegt sanft an seiner Stirn. Ein schmutziges Tuch ist um seinen Oberkörper gelegt. Die Art, wie er in Peress' Kamera schaut, sagt, daß er sich gesehen fühlt. „The Silence“ hat der in New York lebende französische Autorenfotograf seine Assemblage genannt, und es spricht für ihn, daß sie es aushält, in den falschen Kontext entführt worden zu sein.

„Sex & Crime – Von den Verhältnissen der Menschen“, Sprengel Museum Hannover, bis 12. 5. 1996. Der Katalog kostet 25 DM