: Fremde der eigenen Wahrnehmung
„Movimientos '96“: Die Choreographien aus Lateinamerika sind Kontaktbörse und Schaufenster für Europa zugleich. Der Rückgriff auf religiösen Tanz und schamanische Spiritualität als Möglichkeit der Avantgarde ■ Von Kai Voigtländer
Plötzlich steht der Blinde da. Das Licht ist noch an, die Zuschauer lachen und schwatzen, die Bühne liegt im Dunkel. Dann, fast gleichzeitig, verstummen alle Gespräche. Irgendjemand hat ihn entdeckt. Die Gestalt am rechten Bühnenrand trägt auf dem Hinterkopf eine Leopardenmaske, die ins Publikum blickt, schwarzes Tuch verdeckt ihr Gesicht und ihren Körper. Ein gläserner Blindenstock weist ihr den Weg. Schritt für Schritt tastet sie sich über die Bühne, folgt einer Spur, die in den Sand gezeichnet ist, begrenzt durch zwei Reihen mit Glasscherben. Minutenlang ist nichts zu sehen außer diesem blicklosen Weg. Dann gleitet die Gestalt durch einen schwarzen Vorhang, nur die Leopardenmaske bleibt hängen an der Wand, leuchtet nach im verdämmernden Scheinwerfer. Der Blinde ist weg, wir sehen nichts mehr.
Prolog zu „Das Land der Blinden“, der neuen Produktion des Kolumbianers Alvaro Restrepo. Die 90-Minuten-Performance nach einem Text von H. G. Wells war zugleich auch Auftakt für „Movimientos '96“, die „Tanzplattform Lateinamerika“ in der Hamburger Kampnagelfabrik. 14 Kompanien, acht Länder, zwei Tage lang volles Programm: Dichter kann man sich kaum einen Überblick verschaffen über die Entwicklung des zeitgenössischen Tanztheaters in Lateinamerika. Die Plattform soll auch ein Sprungbrett sein, denn „Movimientos '96“ dient als Vorauswahl für die Rencontres Chorégraphiques Internationales de Seine-Saint-Denis (Bagnolet). Hinter dem barocken Titel verbirgt sich nichts weniger als das weltweit wichtigste Forum für zeitgenössischen Tanz, wie er sich in Mexiko, Venezuela, Brasilien, Argentinien und anderen Ländern entwickelt hat. Nach Hamburg wurde die Plattform geholt, weil es hier seit dem Sommertheater 1992 (Schwerpunkt: Lateinamerika) eine Fülle von Kontakten und Informationen über die terra incognita der südamerikanischen Tanzszene gibt.
Nach den Regularien können in Bagnolet nur Ensembleproduktionen antreten, die nicht länger als 30 Minuten dauern dürfen. Das Solo des Blinden lief daher außerhalb des offiziellen Programms. Daß Alvaro Restrepos Arbeit dennoch als Eröffnungsstück der „Movimientos '96“ plaziert war, muß man wohl ein Werk listenreicher Intuition nennen. Denn die Frage, was man eigentlich sehen kann oder will – und was man nicht sehen kann, selbst wenn man will – ist das heimliche Thema aller Grenzüberschreitungen, aller Begegnungen mit fremder Kultur.
Wie weit machen unsere Vorstellungen von Lateinamerika (Vitalität und fließende Energie, Potenz und Rauschgiftkartelle) uns blind? Was können wir eigentlich sehen, wenn wir dem Blinden zusehen, wie er sich in ein riesiges Buch hineingräbt mit zerfallenden Seiten, verblaßten Buchstaben, bröselnden Erinnerungen? Wenn er sich mit kleinen Holzstäbchen den hochgetürmten Turban spickt, wenn er im Insektenkostüm eine gläserne Kugel umschreitet? Bestätigen sich in solchen Bildern doch nur unsere Klischees von authentischer indianischer Spiritualität, vom erdverbundenen Schamanismus der Eingeborenen. Alvar Restrepo will der Traditionsvergessenheit seiner kolumbianischen Landsleute den Spiegel vorhalten, ihrer Blindheit gegenüber den Schätzen der eigenen, nichtwestlichen, präkolumbianischen Kultur.
Oder was sehen wir, was können wir erkennen in den eigentümlichen, weit aus dem Körperzentrum hinausdrängenden Bewegungen, wie sie uns begegnen in den Choreographien der brasilianischen Kompagnie EnDança? Selbst wenn die Zuschauer wissen, daß sie ihr Körpertraining auf nichtklassischen, afrobrasilianischen Bewegungsmustern aufbauen, wie sie im candomblé-Kult überliefert werden – was hilft es ihrem Blick, das zu wissen?
Und die Kargheit der Bühnenbilder, in denen die meisten Kompanien auftreten: ein Tisch, ein Bett, zwei Klappstühle, ein paar Schüsseln mit Wasser, ein Vorhang aus Papierbahnen als Bezugspunkte einer Choreographie. Das läßt sich gleichermaßen lesen als Zeichen einer selbstgewählten Ästhetik der Armut und als reeller Ausdruck lateinamerikanischer Produktionsbedingungen. Die, nebenbei bemerkt, eigentlich überhaupt nicht vorhanden sind: Selbst Kompanien, die schon zehn oder 15 Jahre kontinuierlich arbeiten, haben keine eigenen Probenräume. Es gibt keine Infrastruktur, keine Kontakte zwischen den Gruppen und kaum Ausbildungsmöglichkeiten für nicht-klassischen, für zeitgenössischen Tanz. Die Tänzerinnen und Tänzer können nicht vom und nicht fürs Tanzen leben, sondern sind auf Jobs angewiesen.
Wie durchlässig ist unser eigenes Bild von der Avantgarde, vom Zeitgenössischen im Tanztheater, für die ganz anderen sozialen Bedingungen, unter denen sich avantgardistischer Tanz in Lateinamerika formuliert? In einer Gesellschaft, die ihr Gesicht und ihre Würde verloren hat in den alltäglichen Gewaltverhältnissen, ist der Rückgriff auf religiösen Tanz und auf schamanische Spiritualität vielleicht die einzig mögliche Haltung der Avantgarde. Und der Versuch, auf der Bühne heile Gegenwelten zu entwerfen zur allgegenwärtigen Armut, ist nicht weniger zeitgenössisch als der anklagende, der entlarvende Gestus des Zeigefingertheaters, den wir reflexartig phantasieren. Natürlich ist die Tanzplattform ganz pragmatisch eine Kontaktbörse, ein europäisches Schaufenster der südamerikanischen Tanzszene(n). Aber im besten Fall ist sie auch eine Reise in das Fremde der eigenen Wahrnehmung. Wie Blinde tasten wir uns vorsichtig durch einen unbekannten Kontinent. Vielleicht der beste Effekt, den „Movimientos '96“ produziert: Das Fremde wirklich sehen kann nur, wem die Augen über die eigene Blindheit aufgegangen sind.
Eine Auswahl der Produktionen für „Movimientos '96“ zeigen das Haus der Kulturen der Welt in Berlin vom 5. bis 9. März und das Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt vom 6. bis 9. März
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