Wenn Oma das Leben diktiert

Geduld, Verzicht, und manchmal helfen nur noch Tricks: Wenn Angehörige von Alzheimerkranken sich entscheiden, die verwirrten Menschen nicht in ein Heim abzuschieben, ist zu Hause nichts mehr wie zuvor  ■ Von Vera Gaserow

Stattlich war er, der Mann im U-Bahn-Abteil, der sie an jenem Frühlingstag 1951 unentwegt mit seinen braunen Augen fixierte. 1,86 Meter groß, gutaussehend und reichlich dreist, wie er sie da bis in die Stoffabteilung vom KaDeWe verfolgte, um ihr ein Rendezvous aufzudrängen. Ingrid Kahle* muß noch heute lachen. Ein Jahr später war der unverschämte Lulatsch ihr Mann. Ein Mann, um den manche Freundin sie beneidete: intelligent, fürsorglich, lustig, aber eher ruhig.

Heute redet Paul Kahle* in einem fort, klar artikulierte Sätze, lange Abhandlungen – aber keiner versteht ihren Sinn. Was sind sie früher gereist – er mit der ausgetüftelten Reiseroute immer im Kopf – heute findet er in der eigenen Wohnung nicht einmal den Weg zum Bad. Mathe und Physik, das waren seine Lieblingsfächer als Lehrer – heute weiß er seinen Namen nicht mehr. Immer war er wie aus dem Ei gepellt, das gehörte für ihn zum Lebensstil – heute trägt Paul Kahle Windeln unter der grünmelierten Anzughose.

Ingrid Kahle liebt ihren Mann, auch heute – jeder, der ihre Neubauwohnung betritt, spürt die intime Zärtlichkeit zwischen den beiden. Aber manchmal möchte sie ihn anbrüllen: „Ich könnte dich an die Wand klatschen, du selten dämliches Rindvieh!“ Dann muß sie schnell vor die Tür gehen, tief durchatmen und sich vorsagen, was sie doch seit Jahren weiß: „Er kann ja nichts dafür.“

Paul Kahle hat Alzheimer – diese Krankheit, über die man witzelt, wenn man sie nicht hat. Alzheimer, das haben Prominente – Ronald Reagan, Herbert Wehner oder steinalte Menschen in Pflegeheimen, allesamt weit weg. Für die Angehörigen eines Erkrankten aber ist Alzheimer hautnah. Und denen, die sich, wie Ingrid Kahle, entscheiden, den Patienten zu Hause zu pflegen, geht die Krankheit unter die Haut.

Am Anfang hat niemand etwas gemerkt. Erst als Paul Kahle, der Mathelehrer, im Österreichurlaub die Mark nicht mehr in Schillinge umrechnen konnte, wurden Freunde stutzig. Dann erzählte er immer häufiger die gleichen Geschichten – Kriegserlebnisse. Irgendwann, Paul Kahle war Anfang 60, kam die Dignose: Alzheimer, unabänderbar. Er begann alles zu verlegen, unzählige Schlüssel mußten nachgemacht werden. Er verkramte wichtige Dinge im Keller, später vergaß er, daß es überhaupt einen Keller gab. Die Übergangszeit war die schwerste – für Paul Kahle selbst, weil er noch merkte, was ihm alles nicht mehr gelang und an sich selbst verzweifelte, und für seine Frau: „Ich wußte ja gar nicht, wie ich damit umgehen sollte. Jeder Tag brachte etwas Neues, ich mußte mein Leben völlig umstellen.“ Ihr Alltag heute kommt Ingrid Kahle vor wie der mit einem Kleinkind, aber: „Wenn Sie einem Kind zehnmal etwas sagen, begreift es das. Ein Alzheimerkranker nicht.“ Paul Kahle spürt, empfindet und hat einen sehr eigenen Willen – aber das meiste begreift er nicht mehr. Nicht, wo er gerade ist, wer ihm gegenüber sitzt, wie man einen Pullover anzieht. Vieles verwirrt ihn: Wenn neben seinem Teller eine Gabel liegt, die ihm zu groß erscheint, weigert er sich, zu essen; als im Badezimmer eine neue Fußmatte lag, traute er sich nicht mehr hinein. Ingrid Kahle muß wie ein Seismograph seine Stimmungen erspüren. Eine falsche Reaktion, und ihr Mann ist bockig. „Sie müssen immer gleich ruhig und freundlich sein, auch wenn Sie am liebsten explodieren würden.“

Ingrid Kahle will ihren Mann nicht verstecken und nimmt ihn nach Möglichkeit überallhin mit: auf den Wochenmarkt, ins Restaurant, ins Museum. Aber seit dem letzten Herbst ist das schwieriger geworden. Paul Kahle ist, wie die meisten Alzheimererkrankten irgendwann, inkontinent geworden. Er braucht Windeln, und auch die helfen nicht immer. Zwei, dreimal am Tag muß seine Frau manchmal komplett die Kleidung wechseln, „weil er naß ist bis unter die Achselhöhlen“.

Paul Kahle kann problemlos laufen, aber er geht keinen Schritt mehr allein. Er hat keine Orientierung mehr, und seit einem Schockerlebnis vor sechs Jahren läßt seine Frau ihn nicht mehr aus den Augen: Da war Paul Kahle von einem Gang zum Briefkasten nicht zurückgekehrt. Vier Tage und drei Nächte war er verschwunden. Bis irgendwann eine Mercedes-Niederlassung – zig Kilometer entfernt – anrief. Wenn ein gewisser Paul Kahle ihr Mann sei, dann solle sie ihn gefälligst abholen. Die Schuhe durchgelaufen, die Füße blutig, der Anzug stinkend und kotverschmiert, war der Kranke durch die Stadt geirrt, bis ihm als ehemaligem Daimler-Fahrer der blaue Stern an dem Mercedeshaus heimisch vorkam. „Diese Tage“, sagt Ingrid Kahle, „haben mich Jahre meines Lebens gekostet.“

Ihr eigenes Leben? „Das rauscht vorbei. Sie stehen irgendwie außerhalb.“ Keine Nacht mehr durchschlafen, immer da sein, nicht eine Minute Luft holen können, kaum noch Besuch und Besuche. Abends fühlt Ingrid Kahle sich oft, „als ob mir jemand jedes Haar einzeln ausgerissen hat“. Eigentlich ist sie längst am Ende ihrer Kraft. Dann kommen diese Gedanken, die sie schnell verwirft: Ob es nicht besser wäre, wenn ... „Wenn jemand tot ist, dann kann man trauern, dann ist man allein. Aber ich bin zu zweit und doch völlig allein. Ich komme mir so verloren vor.“ Würde sie ihren Mann nicht so sehr lieben, sie hätte längst aufgegeben, „aber wir waren 44 Jahre verheiratet, und es war eine so phantastisch schöne Zeit“. Ingrid Kahle will durchhalten.

Zweimal im Monat geht sie mit ihrem Mann in eine der fünf Berliner Selbsthilfegruppen für Angehörige von Alzheimerkranken, die Rosemarie Drenhaus-Wagner ins Leben gerufen hat. In kleinen Gruppen können sie sich hier Rat holen und tabulos miteinander reden: über die Wut, „daß man dem Mann, der einen ständig betrogen hat, nun den Hintern abwischen muß“, über die Ahnung, irgendwann nicht mehr die Kraft zu haben, über die Angst, „daß die eigene Wohnung zur Kloake wird“, über die Trauer, daß im Jahre dauernden Verlauf dieser Krankheit aus Vertrautheit völlige Fremdheit wird, über die Schuldgefühle, wenn man insgeheim den raschen Tod herbeiwünscht.

„Oma“ mochte eigentlich keiner so richtig gern in dem kleinen Haus am Berliner Stadtrand. Und das hat sich seit jenem Oktobertag 1995 auch nicht geändert. An diesem Tag kam die Nachricht aus dem Krankenhaus: „Ihre Mutter ist nicht rehabilitierbar. Demenz. Alzheimer. Holen Sie sie ab.“ Karla Misch* und ihr Mann haben den Familienrat einberufen: Vier Geschwister, und alle waren sich einig: Mutti kommt nicht ins Heim. Nur wohin dann? Ein Bruder verabschiedete sich gleich aus der Verantwortung, die beiden Schwestern hatten einsichtige Gründe, die 75jährige Dame nicht aufzunehmen. Blieben Hans Misch* und seine Frau Karla mit ihren drei Kindern im frisch bezogenen Häuschen. Oma bezog das Arbeitszimmer.

„Seitdem“, sagt Karla Misch „ist nichts mehr, wie es war.“ Anfangs hatten die Geschwister noch ein Rotationsmodell angeboten, drei Tage die Woche kommt Oma zu uns. „Jetzt sollen wir schon dankbar sein, wenn wir sie einen Tag zu ihnen bringen können.“ Und Oma diktiert das Leben – wann aufgestanden und wann ins Bett gegangen wird. Oma muß regelmäßig zur Toilette gebracht, gewaschen, angezogen werden. Oma ist Kettenraucherin. Mal drückt sie die Kippe auf dem Eßtisch aus, mal droht der glühende Stummel in ihrem Sessel Feuer zu fangen. Oma bestimmt die Tischordnung, dabei ißt sie selbst nicht recht appetitlich. Oft vergißt sie, wohin man die Gabel mit dem Bissen führt. Oma kann aggressiv werden, vor allem aber: Sie ist überall dabei. Abends im Wohnzimmer, wenn die Familie endlich zusammen ist, redet sie lautstark dazwischen. Oder sie will unbedingt Volksmusik hören, für die anderen ein Greuel. Die 17jährige Jenny spricht aus, was alle denken: „Manchmal wär's besser, sie wäre nicht da.“ Aber die Mischs haben sich entschieden, Oma nicht in ein Heim geben, auch wenn sie sich manchmal fragen, „was uns geritten hat“. Sie haben den Schritt mit den drei Kindern diskutiert, und alle waren sich einig: Wir fünf halten zusammen. Die Grenze ist dort, wo die Familie zusammenzubrechen droht. Der Fünferhaushalt hat bisher mit bewundenswerter Teamarbeit die Lebensumstellung bewältigt. Der vierzehnjährige Micha bringt Oma aufs Klo, Robert mit seinen zehn Jahren paßt auf, daß die Dame nicht die Sofakissen anzündet, Karla und Hans Misch holen Oma abwechselnd aus der Tagesstätte ab. Und für vieles hat man inzwischen kleine Tricks. Wenn Oma kategorisch beschließt: Es ist acht Uhr, die Hunde müssen raus, dann geht eben einer aus dem Wohnzimmer und kommt zwei Minuten später wieder rein. In der Zwischenzeit hat Oma die Hunde vergessen. „Oma nervt, aber ich akzeptier' sie so, wie sie ist“, meint Mischa.

Manchmal hat Karla Misch das Gefühl, das alles übersteige ihre Kraft. Kaum noch Zeit mit ihrem Mann, kein Urlaub, ständige Übermüdung. Dann kommt die Bitterkeit über den Verzicht, den die Familie leistet: Wenn Oma sich für die Tagesstätte, von ihr „Kinderkrippe“ genannt, nicht anziehen lassen will und die Schwiegertochter deshalb zum x-tenmal zu spät zur Arbeit kommt. Wenn Oma einem Fremden auf der Straße 50 Mark in die Hand drückt und hinterher herumerzählt, zu Hause werde ihr alles Geld geklaut. „Man ist einfach nicht jeden Tag so stark, daß man sich sagt: Das hängt mit ihrer Krankheit zusammen.“ Aber bereut hat Karla Misch ihren Schritt trotz allem nicht: „Ich hatte vorher eine unglaubliche Angst vor Alten. Jetzt weiß ich, daß ich mit ihnen zusammenleben kann. Man muß eben lernen, vieles einfach lustig zu nehmen.“

*Namen geändert. Berliner Angehörigeninitiative: Sozialpädagogisches Institut, Hallesches Ufer 32-38, 10963 Berlin