Angeklagt: „Eine Sammlung von SS-Kerlen“

■ Die taz dokumentiert den Bericht eines sowjetischen Journalisten, der vor 50 Jahren den Prozeß gegen das Wachpersonal des KZ Neuengamme im Curio-Haus besuchte

Als im März 1946 ein britisches Militärgericht im Curio-Haus gegen Angehörige des Wachpersonals des KZs Neuengamme verhandelt, sitzt auf der Pressebank auch ein Reporter der Berliner „Täglichen Rundschau“. Das Blatt wird von der sowjetischen Militärverwaltung als deutschsprachige Tageszeitung für die „Sowjetisch besetzte Zone“ (SBZ) herausgegeben. Im Rahmen einer zwölftägigen Informationsreise durch die britische Zone wirft der „Rundschau“-Redakteur W. Ruban auch einen am leninschen Publizistikbegriff geschulten Blick auf die westliche Art, den „Hitleristen“ den Prozeß zu machen.

„Nach Besichtigung des Hafens fuhr ich mit einem der englischen Offiziere und einem französischen Journalisten zu einer Verhandlung gegen 14 Leiter des Konzentrationslagers Neuengamme (im Original Neuenhamm, B.R.). Das Lager befand sich 20 Kilometer von Hamburg entfernt. Die SS-Leute, die jetzt auf der Anklagebank sitzen, werden beschuldigt, mehr als 10.000 französische und russische Kriegsgefangene und viele deutsche Antifaschisten ermordet zu haben.

Bei den Angeklagten muß man sich eine Sammlung von SS-Kerlen vorstellen, die den Typen aus den anderen Prozessen im Herbst vorigen Jahres und in diesem Winter sehr ähnlich sehen. Auch hier ein aufgedunsener höherer SS-Dienstgrad mit Glotzaugen, der Führer des Lagers, und seine Helfer, mit niedrigen Stirnen und degenerierten Gesichtern, und die Sadisten, die die Posten der verschiedenen Blockleiter ausfüllten, der Dienstarzt, der Experimente an jungen Franzosen aus der Widerstandsbewegung vornahm.

Auf den Zeugenbänken sitzt eine große Gruppe wohlgenährter Männer und Frauen in grauer Uniform. Es sind Vertreter der schwedischen Organisation des Roten Kreuzes. Sie sind als Verteidigungszeugen aufgerufen worden und sichtlich in Verlegenheit gebracht durch die Rolle, die sie hier spielen sollen. Ein schwedischer Journalist von der Zeitung Svenska Dagbladet erklärt mir, daß diese Menschen sehr beschäftigt sind und unangenehm berührt seien, daß man sie hierhergerufen habe. Sie haben auch allen Grund, unangenehm berührt zu sein. Sie bemühten sich, den Häftlingen zu helfen, und müssen jetzt die Verteidiger der Henker spielen.

Die Zuschauer hier im Saal reagieren stürmisch auf jede Zeugenaussage. Man hört sogar hysterische Ausbrüche. Zur Verhandlung zugelassen sind nur Deutsche, an denen die Faschisten Ausschreitungen begingen, die unter dem Faschismus litten und gegen ihn kämpften. In Hamburg und im Ruhrgebiet gibt es viele von ihnen. Sie verlangen harte Bestrafung der SS-Leute, die sich in den Lagern Bestialitäten zuschulden kommen ließen. Sie wollen die völlige Beseitigung nicht nur der aktiven Nazis, die Parteiposten bekleideten, sondern auch der Nazis, die heute noch entscheidende Stellungen im Wirtschaftsleben einnehmen. Sie wissen, daß nur dann die Voraussetzungen für die Entwicklung einer wirklichen Demokratie geschaffen sein werden.“

Am 21. März verließ der sowjetische Journalist Hamburg. „Bei Helmstedt nehmen wir Abschied von der britischen Zone, in der wir zwölf interessante Tage verbrachten und erstmalig Gelegenheit hatten, uns mit einer Reihe ihrer Eigentümlichkeiten bekannt zu machen. Unmittelbar hinter Helmstedt liegt die Zonengrenze, wir kommen in die Provinz Sachsen, in die sowjetische Besatzungszone Deutschlands“, endet W. Rubans Bericht. Bernhard Röhl