Die Freizeit ist nicht so „frei“

Was kommt, wenn die Arbeit geht? Die schöne neue Freizeitwelt. Eine fürchterliche Vision: Baguette und Telespiele ersetzen das alte Ordnungsinstrument panem et circenses  ■ Von Bernd Guggenberger

„Kein Funke der Besinnung“, meinte einst Theodor W. Adorno, dürfte „in die Freizeit fallen, weil er sonst in die Arbeitswelt überspringen und sie in Brand setzen könnte“. Besteht also auch deshalb kein Interesse am souveränen, selbstaktiven Freizeitwesen? Freizeit ist nie völlig unabhängig als das Andere der Arbeit zu sehen. Mit tausend unsichtbaren Banden bleibt die Zeit außerhalb der Arbeit, die „Freizeit“ „an ihren Gegensatz gekettet“. Dauer und Plazierung der Arbeitszeit im Tages-, Wochen-, und Jahresrhythmus bestimmen über Umfang und Möglichkeiten der Freizeit.

Die Flexibilität ist groß: es gibt Feiertags- und Wochenendarbeit, Schichtarbeit, Teilzeitarbeit für viele erwerbstätige Frauen (rund drei Millionen). Die Zunahme der Freizeit ist eine Sache; eine andere die starke, immer noch wachsende Differenzierung des Freizeitanteils selbst.

Chamäleonmoral

Wichtiger noch: Die Freizeit ist nicht „frei“. Vor allem die nach wie vor wirksame psychosoziale Determinationskraft der Arbeit schränkt für viele den Spielraum der Freizeit ein. Was einem die Arbeit vorenthält, kann man nur sehr begrenzt und eher in Ausnahmefällen in der Freizeit kompensatorisch einholen. Die einschränkende Arbeitssituation verhindert vielfach, daß sich in der Freizeit die Bedürfnisse nach sozial reicheren, kommunikativeren, geistig und emotional anspruchsvolleren Tätigkeiten durchsetzen, die der Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung zugute kämen. Wer schon in seiner beruflichen Tätigkeit eigenständig handeln und souverän disponieren kann, der wird auch mit einer anspruchsvolleren Freizeitnutzung im Sinne einer ungeschmälerten „Eigenzeit“ weniger Probleme haben.

Gäbe es ein Katasteramt für Kulturelles, so stünde unsere Epoche mit diametral entgegengesetzten Tugend- und Lasterkatalogen zu Buche: Bis 4 Uhr, in der Arbeit, bedarf es hoher Selbstdisziplin, wacher Konzentration, zielbewußter Sparsamkeit, verantwortungsvollen Umgangs mit Maschinen, Menschen und Material, größter Zuverlässigkeit und Beständigkeit. Nach 4 Uhr und an den Wochenenden aber wird zum Laster, was zuvor Tugend war: Jetzt ist der schnellentschlossene Käufer gefragt, der Wegwerfer, der Verschwender, der wendige, experimentierfreudige Austauscher, der ex und hopp ißt und trinkt, fährt, lebt und stirbt, für den die guten alten Verbrauchertugenden des sorgfältigen Überlegens und Prüfens, der Produkttreue und der emotionalen Anhänglichkeit an langlebige, qualitätsvolle Gegenstände nicht mehr zählen.

Die expansive Arbeitsgesellschaft braucht diese Chamäleonmoral, sie braucht den „Charakterwechsel nach Feierabend“. Dieser ist das Scharnier, worüber sich die Arbeit in die Freizeitsphäre hinein verlängert. Nur wenn es gelingt, die Freizeit zu entkommerzialisieren, verdient sie ihren Namen wirklich. Nur in einer Gesellschaft souveräner, selbstaktiver Konsumenten kann allgemeine Arbeitsverknappung zur Wohltat werden. Nur eine Gesellschaft, der es gelingt, ihr Konsumverhalten zu „domestizieren“, kann guten Gewissens von expansionistischen Strategien der künstlichen Arbeitsvermehrung abrücken.

„Pflicht zur Muße“

Die Mikroprozessoren-Revolution wird uns vermutlich noch einiges an Rationalisierungsschüben bescheren. Vor diesem Hintergrund ist die „Pflicht zur Muße“ möglicherweise um vieles aktueller und plausibler als das immer anachronistischere „Recht auf Arbeit“, welches schon Friedrich Engels als „Ausgeburt eines bürokratischen Juristensozialismus“ gegeißelt hat. Jedenfalls könnte Paul Lafargue posthum noch seinem Schwiegervater Karl Marx im Pantheon profaner Prophetie den Rang streitig machen: Sein „Recht auf Faulheit“ gewinnt in einer Gesellschaft der langfristig schrumpfenden Arbeit zunehmend an Plausibilität. Nicht Arbeit und Disziplin, sondern Faulheit und Muße waren für ihn die Mütter der „Künste und der edlen Tugenden“.

Eine wachsende Zahl von Theoretikern geht heute davon aus, daß eine solche „Option“ ohnehin alternativlos ist: In wenigen Jahren bereits, so bilanzierte der Arbeitszeitforscher Pierre Adret, werden wir vielleicht noch zwei Stunden pro Tag arbeiten müssen, den Rest besorgen Automaten und Roboter. Und auch der katholische Sozialethiker Oswald von Nell-Breuning entwarf schon für die nahe Zukunft die utopische Vision, „daß zur Deckung des gesamten Bedarfs an produzierten Konsumgütern ein Tag in der Woche mehr als ausreicht“. Noch klingen Prognosen abenteuerlich, die besagen, es könnte schon bald üblich sein, statt Entgelt für Arbeit Prämien für den freiwilligen Verzicht auf Arbeit zu zahlen. Und doch ist das System der „leistungsfreien Bereitschaftsprämie“ längst gesellschaftliche Realität: in der Übungsfirma, in der Landwirtschaft, in der Bundeswehr...

Was kommt, wenn die Arbeit geht? Die Wahrheit ist, daß es keine eindeutige Antwort auf den „Verfall der Arbeitsgesellschaft“ gibt. Jedenfalls „keine Antwort, die uns zur schlechten alten Zeit zurückführt“, wie Ralf Dahrendorf meint. Die Aufgabe der Stunde hieße, endlich folgenreich über die Identität einer Gesellschaft „ohne Arbeit“ nachzudenken.

Es ist sicher nicht falsch, die Arbeit als gesellschaftlichen Ordnungsfaktor allerersten Ranges zu sehen. Möglicherweise ist die allmorgendliche „Ordnungsleistung“ der Stechuhr durch die Ordnungskompetenz von vieltausendfachen „Ordnungskräften“ nicht wettzumachen. Zu befürchten ist weniger eine „Zukunft der Arbeitsgesellschaft“, in der die Stechuhr durch Polizei ersetzt wird. Vorstellungen eines solchen autoritären Lebensdirigismus finden sich aber nicht selten bei jenen, die lautstark die „fehlende Disziplinierung“ in einer „Welt ohne Arbeit“ beklagen.

Wahrscheinlicher und fürchterlicher ist die Vision einer schönen neuen Freizeitwelt, die das altbewährte Ordnungsinstrument panem et circenses in zeitgemäßer Version zum funktionalen Ordnungsäquivalent der Stechuhr adelt: Baguette und Telespiele als ordnungsfunktionale Freizeitversion der einstigen Arbeitsgesellschaft.

Die Mitglieder einer Gesellschaft, die nach der Arbeitsgesellschaft kommt, brauchen vor allem eins: den Mut, an sich selbst interessiert zu sein. Wo dieser Mut fehlt, wo es an Selbstachtung und dem Willen wie dem Vermögen zur Selbstverwirklichung mangelt, könnte die Versuchung einer verzweifelten Desertion in Arbeit und in ihr Alter ego, den fremdbestimmten Freizeitkonsum, übermächtig werden.

Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Er ist Autor des Buchs „Wenn uns die Arbeit ausgeht“. Hanser-Verlag, München 1988. Beim vorstehenden Text handelt es sich um die gekürzte Fassung eines Referats.