■ VLB
: Geschichtsironiker

Legt man die Klassifizierung der verschiedenen Formen historischen Erzählens von Hayden White zugrunde, dann entspricht Richard Pipes – für einen bekennenden Antikommunisten doch recht ungewöhnlich – dem Typ des Ironikers: denn seine Beiträge zur Russischen Revolution sind dem Gestus der radikalen Negation sowohl der populären Annahmen als auch der gängigen Lehrmeinungen über dieses Ereignis verpflichtet. Er läßt sogar den Kern des Ereignisses selbst nicht unangetastet, nach seinen jüngsten Wiener Vorlesungen über „Drei Fragen der Russischen Revolution“ bleibt von ebendieser nicht viel übrig. Man erfährt hier aus berufenem Mund (Pipes, 1923 in Polen geboren, 1940 nach Amerika ausgewandert, forscht und lehrt seit 1958 in Harvard über Aufstieg und Fall des Sowjetimperiums) neueste Erkenntnisse aus den geöffneten Sowjetarchiven, aber am Ende hat der Gewährsmann gar das Ereignis selber, die große Revolution des russischen Volkes, auf höchst irritierende Weise in einen zunächst vergleichsweise unspektakulären Staatsstreich eines auf die Machtergreifung spezialisierten Ordens verwandelt.

Warum, fragt Pipes, kam es zum Sturz des Zarismus? Warum gelang es den Bolschewiki, die Macht zu erobern? Warum wurde Stalin Lenins Nachfolger? Der Zar, so Pipes, stürzte nicht aus sozialen, sondern aus politischen Gründen, und sein Sturz war alles andere als unausweichlich. Die Bolschewiki profitierten bei ihrer Machtergreifung vor allem von etlichen Fehlern ihrer politischen Gegner. Daß der „böse“ Stalin auf den vermeintlich „guten“ Lenin folgte, sei hingegen kein Unfall, sondern historische Zwangsläufigkeit.

Pipes' Unternehmen, das „geschichtsmächtigste Ereignis des 20. Jahrhunderts“ (Klappentext) als im Kern leer erweisen zu wollen, dieser tolldreiste Versuch, unsere politische Einbildungskraft um eines ihrer schweren Zeichen zu erleichtern, hat bei aller Fachgelehrtheit etwas Verschrobenes, Eigenbrötlerisches, selbstdenkerisch Überehrgeiziges – aber literarisch leuchtet dieser Angriff auf den historischen Roman unseres Jahrhunderts unmittelbar ein.

Richard Pipes: „Drei Fragen der Russischen Revolution“. Passagen Verlag, 91 Seiten, 28 DM