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: Schutzmasken

Ein amerikanischer Rezensent hat dieses Buch verurteilt: Diane Arbus habe ihren Gegenstand ausgebeutet, und sie habe gar „die Rechte der geistig Behinderten verletzt“. Kein verantwortungsbewußter Leiter einer „solchen Einrichtung“ (eines Behindertenheims, d.R.) dürfe heute noch solch ein Fotoprojekt erlauben.

Die Fotografin Diane Arbus hat die hier versammelten Fotos zwischen 1969 und 1972 – lange bevor sich die Türen schlossen – bei verschiedenen Exkursionen in die Welt der Anstalten für geistig Behinderte machen können. Wer nicht ganz und gar versteinert ist, dem wird der Vorwurf der Ausbeutung beim Blättern in diesem bewegenden Band bald absurd erscheinen. Die Anwalt-der-Entrechteten-Pose des Kritikers verdankt sich wohl mehr einer Panik als einer aufrichtigen Parteinahme. Einer Panik, die diese Fotos erzeugen können, weil sie uns die Welt dieser Behinderten als eigene Welt mit eigenen Ritualen zeigen, zu der wir keinen Zugang haben und die doch der unseren in vielem gleicht; Arbus tut also genau das, was die phantastische Kunst immer schon getan hat. Die Abwehr gilt womöglich mehr den Fotografierten selbst als dem angeblich rücksichtslosen Vorgehen der Fotografin.

Rücksichtslos sind diese Fotos allein uns Normalen gegenüber, mit unseren Abwehrzaubersprüchen, die hier außer Kraft gesetzt werden. Sprüche von der Sorte: „Wir sind doch alle irgendwie behindert.“ Arbus' Fotos kann man sich so nicht vom Leibe halten. Denn wir würden uns nicht so fotografieren lassen, Spuckefäden am Mund, ausrastend, stieren Blicks, abwesend. Für eine Porträtfotografin muß das eine paradoxe, herausfordernde Situation sein: Während Arbus sich ihren Objekten sonst durch Anverwandlung näherte, um in ihre Welt vorzudringen und sie aus der Reserve zu locken – wenn sie Nudisten fotografierte, war sie selber nackt –, hatte sie es hier mit Menschen zu tun, denen keine Posen zur Verfügung standen, um sich hinter ihnen zu verstecken.

Es stellt sich gewissermaßen das umgekehrte Problem der normalen Situation des journalistischen Fotografen: Statt zu demaskieren, Eitelkeit, Selbstzufriedenheit und Darstellungsdrang der Porträtierten zu unterwandern, sieht sich die Fotografin dieser Armen im Geiste, mögen ihre Gesichter auch oftmals entstellt und fast maskenhaft wirken, mit einer manchmal geradezu skandalösen Offenheit und Schutzlosigkeit ihrer Objekte konfrontiert. Arbus hat berichtet, wie ein Insasse zu ihr sagte: „I used to worry about being like this. Not knowing more. But now I don't worry anymore.“

Diese Ausgangslage erklärt vielleicht, warum Arbus so häufig bei Halloween-Parties und anderen Festen fotografiert hat, bei denen die Teilnehmer maskiert waren. Die Maske als Schutz – eine erstaunliche Variation über den alten, kritischen Topos der „Charaktermaske“.

Diane Arbus: „Ohne Titel“. Zweitausendeins, 52 Schwarzweißfotos, Triton-Druck, 108 Seiten, geb., 50 DM