Die Regel des Spielers

Sämtliche Dogmen getauscht gegen alle Möglichkeiten: Frank Stellas umfassende Retrospektive im Münchner Haus der Kunst  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Je schriller die Ausstellungen im Haus der Kunst, um so eher ertappe ich mich bei dem Gedanken: Das müßte Hitler sehen. Ich stelle ihn mir vor als krächzende Nebelkrähe, die mit einer kleinen Kohorte ebenfalls krächzender Artgenossen in einem runden Messingkäfig durch die Räume gefahren wird. Hitlers Gegenwart würde noch einmal daran erinnern, daß er vor fast sechzig Jahren am gleichen Ort gewünscht hatte, die „prähistorischen Kultursteinzeitler und Kunststotterer mögen unseretwegen in die Höhlen ihrer Ahnen zurückkehren, um dort ihre primitiven internationalen Kritzeleien anzubringen“.

Und jetzt Frank Stella. Bilder mit schwarzen Streifen und mit weit ausgreifenden, ineinanderverschränkten Bögen, Bilder ohne Mitte und mit ungebührlich erweiterten Rahmen, Reliefs aus verschränkten Metallplatten, die mit lustiger Hand bunt koloriert wurden, und ein Fries schreiender Konturen, die in perspektivischen Schnitten, mit Schatten und Unschärfen, ineinander montiert sind, ein unauflösliches Konglomerat. Die Besucher lassen sich treiben. Sie spielen das Spiel auch dann noch, wenn sie seine Regeln nicht mehr begreifen. Ihre Ruhe ist der Humus, aus dem das Werk wachsen konnte. Die Demokratie – das verstehen Diktatoren niemals und nirgendwo – feiert sich selbst im Exzeß der Subjektivität.

Das herausragende Merkmal an Frank Stellas Werk ist seine Vitalität. Nicht einmal die frühesten Arbeiten tragen die Patina der späten Fünfziger, als seine Karriere im unwahrscheinlichen Alter von 23 Jahren abhob. Jede neue Form strahlt die Idee ab, die ihr vorauslief, und jede Serie verrät etwas von der Kraft, die man braucht, um eine Form als Form zu erschöpfen. „Man sieht, was man sieht“, ist der berühmte Spruch von Frank Stella. Klingt wie: „Guck doch selbst, du Esel!“ – und ist eben doch keine Tautologie.

Am Anfang war der Bilderstürmer

Stellas Werk beruht auf einem Kulturkampf, an dem es nicht direkt teilhat: dem Diktat der New Yorker Schule, Malerei als Malerei zu betreiben (die eine Seite); und der brachialen Dingbezogenheit der Pop-art (die andere). Auf beiden Seiten hat Stella eine Position ausgestrichen, gelöscht: bei der New Yorker Schule die Religion; bei der Pop-art den Warenfetischismus. Wie die Titel von Stellas Arbeiten andeuten – einige tragen die Namen von Rennstrecken, andere die von exotischen Vögeln –, ist die Abwesenheit eines Gegenstands nicht ihre Definition. Sie sind wirklich abstrakt: in Ableitungen gewonnen, in theoretische Sprache übertragen.

Am Anfang war der Bilderstürmer. „Ich glaubte wirklich“, erinnert er sich in den „Charles Eliot Norton Lectures“, „daß die Verbindung zu einer normalen Sehweise gekappt werden konnte: Die Malerei wäre dann in der Lage, in einer eigenen Welt weiterzuleben. Ich wollte durch die Malerei eine Unabhängigkeit ausgedrückt sehen, in der sich auf einer anderen Ebene offensichtlich mein Wunsch spiegelte, unabhängig zu sein von der Familie, von den Vorgaben durch Verantwortung und Autorität.“

Die Münchner Ausstellung zeigt in zwei Räumen den Spiegel der Wünsche: Streifenbilder, zunächst in Schwarz, die dann Farben bekommen. Selten genug, vereinigen sie Ruhe und Lakonie (also „etwas Echtes“ und „etwas Distanziertes“). Ihr Charme, ebenfalls selten, liegt in ihrer Systematik. An einem silbernen Bild, das ein gestauchtes H wiedergibt, kann man sie am schnellsten ablesen. Stella malt auf rauhen Nessel einigermaßen akkurate Bahnen. In die Bahnen baut er Winkel ein. Die Bahnen brav nebeneinander geordnet, verschieben sich die Winkel. An der Stelle, wo die Unterbrechung der Bahn zu kleinteilig wird, spart er nicht nur die „übrige“ Fläche aus, sondern auch gleich die Leinwand: Das Bild ist kein Rechteck mehr, sondern (grob) ein H.

Jedem, der weiß, daß Bilder nicht vom Himmel fallen, ist sofort klar, daß Keilrahmen und Leinwand exakt für diese silberne Demonstration gebaut worden sind. Damit sagt Stella, in der kritischen Phase des Abstrakten Expressionismus um 1960: Erstens, es gibt keinen Grund, nicht zu malen. Zweitens, der Zuschnitt eines Bildes hängt ab von der Dynamik seines Motivs.

Dasselbe Argument, rhetorisch gewendet: Wenn das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, dann kommt es nicht darauf an, ob das Ganze noch ein Bild ist. Anders als Schwitters, Fontana oder Rauschenberg interessiert sich Stella nicht für den Gestus der Provokation (Huch, das hat ja ein Loch!“). Seine Gültigkeit wächst aus der Eigengesetzlichkeit des Werks.

Die New Yorker Schule hatte in der großformatigen „harten Kante“ (hard edge) von Barnett Newman einen Abschluß gefunden. So weit trägt der Glaube, dahinter beginnen die Zweifel. Bei Stella gibt es, seit Mitte der sechziger Jahre, drei Modi, die Krise am Horizont zu avisieren. In der Serie der „Irregulären Polygone“ läßt er noch einmal das Prinzip triumphieren: Schräge geometrische Formen sprengen den Bildrahmen. Die vielgerühmte Serie sieht im Vergleich ziemlich angestrengt unartig aus. In der Serie der darauf folgenden „Protractors“ ist das Leitmotiv die Eleganz geometrischer Verschränkung: die „D“-Formen der „Winkelmesser“ werden in anonymer, schmuckhafter Weise ineinandergefächert – die Komplexität muslimischer Graphik übersetzt in Pop-Tapete. Anfang der Siebziger folgt die Serie „Polnisches Dorf“: selbstgeklebte Grammatik, Rückzug zum Material. Die Farbflächen sind jetzt Pappcollagen mit schwer konstruktivistischem Einschlag. Die Serie, von Stella selbst nicht sehr geschätzt, hat den großen Vorteil, daß sie die Stagnation benennt.

Wenn man an Gerhard Richters graue Bilder (ab 1972) denkt, kann man ahnen, wie weit die Definitionskrise der Malerei damals gereicht hat. Pop-art war Routine geworden, Fotorealismus erschöpft, abstrakter Expressionismus eingesargt.

Mehr als die Hälfte der Ausstellung hinter sich, vergißt man leicht, daß dieser Frank Stella erst vierzig Jahre alt ist: 1976. Hier, am entscheidenden Punkt, an dem Stella beginnt, Reliefs mit schwebenden kolorierten Formen aus Metall zu machen, verläßt die Münchner Ausstellung leider ihr chronologisches Protokoll. Das karnevaleske „Lo sciocco senza paura“ (1987) mit seinen buntgestreiften, tanzenden Bechern und Konen bricht als mächtiges Zeichen des Spätwerks ein – was fehlt, muß man im ersten Stock ergänzen.

Der Motor einer endlosen Spirale

Stella, im Mai wird er sechzig, ist ein apollinischer Lebemann mit intellektuellem Schliff. Er hat vor ein paar Jahren eine zweite Familie gegründet, er hält sich Rennpferde und fährt einen Ferrari. Der verlorene Sohn ist als reicher Spieler heimgekehrt ins Patriarchat, um von Tag zu Tag erneut zu erproben, wo die Gesetze der Schwerkraft enden und die Anarchie beginnt. Jeden Rest von „Unabhängigkeit“, die der Maler noch hat, hat Stella aufgegeben. Er unterhält zwei Manufakturen, eine für Metall und eine für Graphik. Die neueren Reliefs wirken, als wenn aus verschiedenen Richtungen Teile gekommen wären – im Fluge größer oder kleiner werdend –, um im Moment ihres Zusammentreffens schlagartig arretiert zu werden. Die sehr große Graphik, die (leider unter dem Gedröhn eines NDR-Features auf Non-stop-Video) im Eingangsbereich zu sehen ist, folgt der gleichen regellosen Regel, der Regel nicht des Spiels, sondern des Spielers: die „internationalen Kritzeleien“ (Hitler) als visuell nahezu unauflösbare Collage inkompatibler Signale. Schraffuren, Verläufe, Ringe, räumliche Netze aus dem Computer, blasse Unschärfen gegen plane Farben.

Und immer wieder greift der Virtuose tief in den Topf mit den Farben des Dilettanismus. Er gießt Teile zusammen wie Mondschrott und läßt eine hochkomplexe Druckcollage auf einer ungrundierten Zehnmeterleinwand stehen wie ein breitgetretenes Kaugummi. Stella jongliert im anonymen Wunderland vom Sechzigfarbendruck in sieben Techniken bis zum rückwärtig gefrästen Relief. Er ist nun der Motor einer Spirale, die er nicht mehr stoppen kann. Er ist so frei wie der Vorsprung, der ihn von seinen Gegnern trennt. Das sind – wie bei Picasso – andere Künstler, die sich beraubt fühlen durch das dichte Netz von Erfindungen, das globale Planspiel der Intuition.

Frank-Stella-Retrospektive im Haus der Kunst München, bis zum 21. April 1996. Katalog 58 DM. – Die „Charles Eliot Norton Lectures“ von 1983/84 finden sich in: Frank Stella, „Working Space“, Harvard University Press