"Seriös und freiheitsliebend"

■ Mariano Gonzalez, Vorsitzender derJugendorganisation Asociation Joven Gitanal (AJEG), im Gespräch über spanische Gitanos, ihre Tradition und Verhaltensregeln

taz: Obwohl die Musik der Gitanos, der Flamenco, fast schon als Synonym für spanische Kultur steht, sind die Gitanos gesellschaftlich geächtet. Wie erklären Sie sich das?

Mariano González: Die Gitanos kamen 1425 zum ersten Mal auf die iberische Halbinsel, damals als Pilger nach Santiago de Compostela. Sie genossen deshalb einen Sonderstatus und lebten ganz gut. Als Spanien 1492 unter den katholischen KönigInnen Fernando und Isabel vereinigt wurde, begann unser Leidensweg. Es wurden erstmals Sondergesetze zur Zwangsintegration erlassen – eine Konstante bis zu Francos Tod. Das hat gesellschaftliche Auswirkungen in Form von Vorurteilen, die bis heute existieren. Die Gitanos sind Hühnerdiebe, Drogenhändler etc. Erst mit der Verfassung von 1978 erhielten wir die vollen Bürgerrechte. Erstmals ist es uns möglich, eigene Vereinigungen zu gründen, um so unsere Kultur zu verteidigen. Die historische Benachteiligung hat natürlich auch soziale Auswirkungen. Insgesamt sind wir über eine Million. Davon lebt heute zwar ein beachtlicher Teil unter vergleichbaren sozialen Verhältnissen wie die Payos (Nichtgitanos), aber es gibt auch noch viele Gitanos, die in Slums vor den Toren der Großstädte leben.

Was macht tatsächlich einen Gitano aus?

Gitano zu sein heißt für uns, ehrlich, seriös und freiheitsliebend zu sein. Das Verantwortungsbewußtsein hat in unserer Kultur einen außerordentlich hohen Stellenwert, besonders gegenüber der Familie und der Arbeit. Die Familie ist für uns der zentrale Bezugspunkt. Und innerhalb der Familie die Alten.

Was bedeuten diese Strukturen für die Frauen?

Unsere Frauen gehen zum Beispiel nicht in Diskotheken. Eine Gitana kann nicht um fünf Uhr morgens nach Hause kommen, ja, sie raucht nicht einmal vor der Familie. Das gilt vor allem für die Frauen zwischen 14 und 20 Jahren, also im heiratsfähigen Alter.

Wie können Sie da die Tradition verteidigen? Gilt die Freiheitsliebe für diese Mädchen nicht?

Das sehen Sie als Payo so. Unsere Kultur ist eine der demokratischsten Kulturen, die es gibt. Jeder Person kommt innerhalb der traditionellen Strukturen und der Familie eine bestimmte Rolle zu. Die Alten sind die Träger der Weisheit und werden nicht wie bei den Payos ins Altersheim abgeschoben. Die Jungs, die Mädchen, die Mutter als Familienoberhaupt, bis hin zu den Kindern haben alle ihren Platz. Die Frauen sind vollständig frei. Was es allerdings gibt, sind Verhaltensregeln für eine Gitana oder einen Gitano. Auch ich als Mann unterliege diesen Normen. Ich kann mich zum Beispiel nur von meiner Frau trennen, wenn sie mir untreu ist. Eine Frau hat es da viel leichter. Wenn sie irgend etwas an mir stört, kann sie gehen. Auch wenn das für einen Payo schwer zu verstehen ist: Die Gitanas identifizieren sich mit ihrer Rolle. Ansonsten haben sie natürlich ähnliche Forderungen wie die Payas auch: bessere Ausbildung, bessere Arbeit etc. Und die Gitanas haben selbstverständlich ihre eigenen politischen Organisationen.

Die Verteidigung von ethnischen Besonderheiten ist nicht immer ganz ungefährlich. Zum einen konstruiert sich darüber die eigene kulturelle – und in Folge davon – persönliche Idendität, zum anderen führt dies aber auch sehr schnell zur Abgrenzung gegenüber allen Andersartigen.

Das ist sicherlich ein Widerspruch. Aber wenn wir heute gerade bei sozialen Problematiken unter Gitanos erfolgreich arbeiten wollen, ist es sehr wichtig, die Traditionen zu kennen und zu respektieren. Typisches Beispiel: Ein Payo als Sozialarbeiter wird in eine Gitanosiedlung geschickt. Was macht er. Er geht von Haustür zu Haustür und sucht das persönliche Gespräch, wie er es aus seinem Umfeld gewohnt ist. Bis ihn die Menschen kennen und akzeptieren, gehen Monate ins Land. Ein Gitano bewegt sich dort ganz anders. Er kennt die Umgangsformen und die Strukturen. Er sucht sich den alten, weisen Gitano, den alle respektieren, spricht mit ihm, und ein, zwei Tage später kennt er den ganzen Stadtteil. Das sind Strukturen, die noch aus der Zeit kommen, als wir ein reisendes Volk waren. Und diese Strukturen zu wahren ist wichtig, wenn wir als Ethnie weiterkommen wollen.

Fühlen sich die Gitanos hier in Spanien als Teil der restlichen Sintis und Romas in Europa?

Ja. Wir nehmen zum Beispiel an Kongressen teil. Durch unsere 500jährige Geschichte hier in Spanien sind wir die einzigen, die die Sprache verloren haben. Aber wir unternehmen große Anstrengungen, um das Romano wiederzuerlernen, um uns so besser mit unseren Brüdern und Schwestern im restlichen Europa verständigen zu können. Interview: Rainer Wandler, Madrid