Die Bibel bleibt sein Pulverfaß

Für Bildungsbürger und Bastler: Zwei äußerst unterschiedliche Ausstellungen in Eisenach erinnern zum 450sten Todestag von Martin Luther an dessen legendäre Gefangenschaft auf der Wartburg und versammeln Altbekanntes  ■ Von Andrea Kern

Am 4. Mai 1521 fährt Martin Luther mitten in der Nacht mit zwei Kollegen durch den Thüringer Wald. Als der Wagen die Höhe von Altenstein erreicht, tauchen plötzlich Reiter auf und überfallen ihn. Einem der Reisenden gelingt die Flucht, der zweite liegt, um Hilfe schreiend, am Boden. Doch die Reiter sind nur an Luther interessiert, den sie, ohne daß ihnen spürbar Widerstand entgegengesetzt würde, in den Wald zerren, auf ein Pferd stemmen und über Umwege auf eine Burg in Thüringen bringen. Dort verpassen sie ihm neue Kleider und einen neuen Namen. Als „Junker Jörg“ verbringt Luther dann fast ein Jahr auf der Wartburg in Eisenach, die ihm zugleich Schutzburg und Gefängnis ist.

Die inszenierte Entführung Luthers war der geniale Schachzug des damaligen sächsischen Kurfürsten, der damit die von ihm geforderte Auslieferung des unerschrockenen Aufrührers und Reformators umgehen konnte, ohne offen dem Kaiser trotzen zu müssen. Denn dieser hatte zwei Wochen zuvor auf dem Reichstag zu Worms die Reichsacht über Luther verhängt. Luther weiß, daß er vorerst keine andere Wahl hat, als sich hinter den Mauern der Wartburg zu verschanzen. Doch in den Briefen, die er von dort aus an seine Freunde schreibt, stöhnt er nur fortwährend, wie schrecklich ihn dieses exzessive Herumhocken auf der Burg quäle und wie er von schier krankhafter Schlafsucht und Faulheit befallen sei. Das fette Essen auf der Burg läßt überdies sein altes Magenleiden wieder aufbrechen, er klagt über Darmverstopfung und Blähungen. Und doch gelingt Luther unter diesen Umständen in Eisenach nichts Geringeres als die erste vollständige Übersetzung des Neuen Testaments.

Um an Luthers Aufenthalt auf der Wartburg anläßlich seines 450. Todestages in diesem Jahr zu erinnern, hat die Stadt Eisenach gleich mehrere Ausstellungen auf die Beine gestellt. Dem eher noch schleppenden Eisenacher Fremdenverkehr kommt das erste gemeinsame Luthergedenkjahr im vereinten Deutschland gerade recht. Nebst Thüringer Würsten, einem traditionellen Eselsritt auf die Wartburg und einem Blick in Luthers karge Stube hat man nun auch eine Handvoll neu hergerichteter Museen im Angebot.

Die Hauptausstellung auf der Wartburg unter dem Motto Luthers „Aller Knecht und Christi untertan“ verläßt sich dabei ganz auf das klassische Ausstellungskonzept: Der Besucher wird chronologisch, ohne Umschweife und thematische Exkursionen, durch die einzelnen Stationen von Luthers Leben geführt. Mit Hilfe von Schriftzeugnissen, Dokumenten und zeitgenössischen Gemälden – allen voran die zahlreichen Ansichten, die Lucas Cranach von Luther entworfen hat – versucht man, ein möglichst umfassendes, aber kein besonders neues Bild von Luther zu vermitteln, dessen Mischung aus grenzenloser Furchtlosigkeit und tiefster Frömmigkeit noch heute den Biographen ein Rätsel ist. Der Gang durch Luthers Leben wird so zu einer etwas anstrengenden Bildungsreise, auf der man vor allem Bildungslücken stopft, aber nicht unbedingt Aufregendes oder Überraschendes erfährt.

Auf einen wichtigen sozialgeschichtlichen Zusammenhang kann das zahlreich gezeigte Schriftenmaterial allerdings sinnfällig hinweisen: Luther und die Folgen der Reformation wäre ohne die Erfindung der Druckpresse undenkbar gewesen. Ihr ist es zu verdanken, daß sich die Schriften Luthers wie ein Lauffeuer in Deutschland ausbreiten und so die antiklerikale Stimmung im Land bündeln konnten. Daß die berühmten 95 Thesen gegen den Ablaßhandel, die Luther am 17. Oktober 1517 an die Schloßkirche in Wittenberg heftete, zur Keimzelle der protestantischen Reformation wurden, war nur möglich, weil ihr schneller und immenser Nachdruck in mehreren Städten dafür sorgte, daß sie binnen weniger Wochen in ganz Deutschland bekannt waren. Sie hatten „in vier Wochen“, notierte ein Freund Luthers damals staunend, „die ganze Christenheit durchlaufen, als wären die Engel selbst Botenläufer und trügen's vor aller Menschen Augen“.

Die unzähligen Flugschriften, die Luther daraufhin ins Land schleudert, sind polemische Aufrufe gegen den Machtanspruch der klerikalen Obrigkeit, wortgewaltige Attacken gegen Rom, in denen er unerbittlich seine Idee eines wahren christlichen Glaubens beschwört, nach der der Mensch sich vor keinem Priester und keinem Papst, sondern einzig vor Gott zu verantworten hat. Sein „Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi“ von 1519 war ein regelrechter Bestseller. Die Ausstellung belegt anhand dreier Exemplare, daß die Schrift noch im selben Jahr in drei verschiedenen Auflagen gedruckt werden mußte, um der Nachfrage wenigstens halbwegs Herr werden zu können.

Als der Kaiser den Prediger, der partout nicht von seinen Lehren abrücken will, am 26. Mai 1521 offiziell für vogelfrei erklärt, um dem Unruhestifter auf diesem Weg ein Ende zu machen, sitzt Luther schon auf der Wartburg geschützt in seinem Versteck. Der französische Historiker Lucien Febvre schildert in seiner Biographie über Martin Luther (der Campus-Verlag hat sie soeben in einer Neuübersetzung herausgebracht) eindringlich die Verzweiflung, die Luther auf der Wartburg überkommt. Abgeschnitten von der Welt, die Ereignisse nur mehr vom Schreibtisch aus verfolgend, beschleicht ihn die fürchterliche Ahnung, daß er die Kontrolle über die Ereignisse der Reformation verliert, die eine von ihm nicht intendierte Eigendynamik gewinnen.

Dabei hat das aufgebrachte Volk Luthers Anklagen gegen die Obrigkeit nur beim Wort genommen und in die Tat umgesetzt. Doch als man die Häuser der Geistlichen stürmt, fühlt Luther sich mißverstanden. Gewalt mit Worten ja, aber nicht mit dem Schwert. Erst recht erbost ist er, als die Bauernschaft mit Thomas Müntzer an der Spitze den Fürsten 1524 den Krieg erklärt und ihre Forderungen nach Freizeit und Gleichheit mit dem Wortlaut des Evangeliums reklamiert.

Auch für Luther war die Bibel ein Pulverfaß; doch er wollte mit ihr nur die Verfassung des Klerus sprengen, nicht aber die politische Ordnung auf den Kopf stellen. Auf dem Höhepunkt der politischen Konfrontation stellt Luther sich schützend vor die Fürsten und nennt die Bauern „treulose Mörder“, gegen die jedes Mittel der Gegengewalt nur recht und billig sei. Nur vor Gott sind alle Menschen gleich, so Luther, auf Erden jedoch nicht.

Der Ausstellung auf der Wartburg ist Luthers reaktionäre politische Haltung allerdings nicht mehr als einen Nebensatz wert. Ein Prediger der Freiheit, als den man Luther hier glorifizieren möchte, war er nur in einem sehr eingeschränkten, höchst unirdischen Sinn. Zu DDR-Zeiten sah das öffentliche Luther-Bild in ihm vor allem einen Feind der Unterdrückten. Das mag zwar begründen, daß einem das heute zum Hals heraushängt, doch nicht, daß man es fast vollkommen verschweigt.

Auch in der Ausstellung „Luther neu entdecken“ im Lutherhaus von Eisenach erfährt man über diesen Punkt nur wenig mehr. Indes, in museumspädagogischer Hinsicht könnte der Gegensatz zwischen den beiden Ausstellungen kaum größer sein. In dem alten Fachwerkhaus findet man weder authentische Dokumente noch Originalgegenstände aus Luthers Leben, die vergeblich über den Zeitgraben von mehreren Jahrhunderten hinweg helfen sollen. Multimedia-Säulen und Touch- Screen-Bildschirme bringen Luther statt dessen zum Greifen nahe: durch thematisch abrufbare Spielfilmszenen zu Luthers Leben, durch Videoclips zu berühmten Bibelgeschichten oder durch ein Computerspiel, bei dem man die Bibel in ein zeitgenössisches Deutsch zu übersetzen hat. Wer stilsicher zu Werke geht, wird mit Punkten belohnt.

Der Besucher ist hier kein Bildungsreisender mehr durch ein Meer von Daten, sondern ein Bastler, der sich seinen eigenen Luther statt am Leitfaden der Chronologie über Themen nach Lust und Laune zusammenstellt. Infotainment im Dienst der Heiligen Schrift: Die Botschaft soll nicht nur verstanden werden, sondern auch Spaß machen. Auch Luther, der ein glänzender Schriftsteller war und überdies ein feines Gespür für die Wirkungsmächtigkeit öffentlich inszenierter Auftritte besaß, hat das einst klar gesehen: daß die Bekehrung zum rechten Glauben nicht nur Argumente, sondern auch eine packende Darstellung braucht, mit der man die Menschen verführt.

Er wußte selbst am besten, auf welch wackeligen Füßen die Sache darum steht: „Ich könnte“, so hat er einmal im Scherz gesagt, „wenn ich wollte, ganz Wittenberg mit drei Predigten wieder zu den alten Irrtümern zurückführen“.

Die Ausstellungen auf der Wartburg und im Lutherhaus sind bis zum 31. Oktober 1996 täglich zu besichtigen. Der Katalog zu sämtlichen Luther-Ausstellungen in Eisenach kostet 58 DM