■ Schlagloch
: Champagner! Auf die Einführung des Prangers! Von Christiane Grefe

„Wir sind natürlich nicht für Rückfall in den Frühkapitalismus ... Wer wirklich krank ist, soll sich auskurieren.“

Joachim Punge, Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer, in der „Westfälischen Rundschau“ vom 28.Februar 1996

Ich bekenne: Auch ich habe gearbeitet, obwohl ich krank war. Triefnase, bellender Husten und ein Schleier im Kopf, und trotzdem habe ich mich, weil irgendwas eilte oder besonderen Spaß machte, an den Computer gesetzt und dabei womöglich noch meine Kollegen infiziert. Oder ich saß mit juckender Neurodermitis in Schlußredaktionsphasen, bis es noch mehr juckte und ich am Ende sogar in die Klinik mußte. Aber wie oft meint man bei chronischen Sachen: „Geht ja noch.“ Hab' mich nicht auskuriert, Herr Punge hat vollkommen recht, das hätte ich tun sollen.

Dachte ich, als ich über den Satz des Dortmunder Vorstands der Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer (ASU) stolperte. Aber dann las ich weiter und merkte: So hat das Herr Punge gar nicht gemeint.

Ganz im Gegenteil, seine Unternehmer-Arbeitsgemeinschaft hat im Revier soeben zur Denunziation aufgerufen: Per Fragebogen bittet der Vorstand die 130 Mitglieder, jene Mitarbeiter aufzulisten, von denen sie glauben, sie hätten grundlos „krankgefeiert“, insbesondere montags. Vor allem aber sollen die Firmenbesitzer den jeweiligen Arzt verpfeifen, der das unterstellte Lotterleben abgesegnet hat.

Ziel dieser Aktion sei, erklärten die Herren der Presse, all diejenigen Mediziner in der Region auszumachen, die „besonders hemmungslos gelbe Scheine verteilen“. Um sie zwar nicht „sofort“ mit „harten Sanktionen“, etwa einer Kostenbeteiligung, zu bedenken – aber über die Kassenärztlichen Vereinigungen doch schon mal mit „psychologischem Druck“. Und wenn die Kassenärztlichen Vereinigungen dabei nicht mitmachten, dann würden die Namen der Ärzte eben einfach veröffentlicht, sagt ASU-Vorstand Thomas Weise. Vielleicht so: „Doktor Sorglos“ – so nennen sie den Mustermann- Mediziner in ihrem Rundschreiben – ist ein verantwortungsloser Absahner!?

Im Anschluß an diese Information ließ sich der sechsköpfige Vorstand der Arbeitsgemeinschaft jedenfalls unter dem verschnörkelten Schriftzug der Dortmunder Brasserie „Bonvivant“ im feinen Hotel „Römischer Kaiser“ fotografieren. Champagner, bitte! Auf die Wiedereinführung des Prangers!

Nur ein Warnschuß, nur eine Lokalspitze? Vielleicht. Doch erstens soll der „Modellversuch“ bei Erfolg ausgeweitet werden, „um den Mittelstand von den hohen Lohnfortzahlungskosten zu entlasten“. Und zweitens steht er für eine sich auch anderswo schleichend ausbreitende Refeudalisierung der Arbeitsbeziehungen, die eben doch zurück in den Frühkapitalismus führt: ein grundlegender Anschlag auf die Selbstbestimmung.

Richtig ist: Der Mittelstand steht in der Wirtschaftskrise unter dramatischem Druck. Wenn schon ein Drittel der Dortmunder Großunternehmen wegen der hohen Lohnnebenkosten im Ausland investiert, dann beuteln diese die kleineren um so mehr; die Pleitewelle rollt. Die Hoffnung aber, sich über ein bißchen weniger Lohnfortzahlung zu sanieren, kommt mir vor wie der Versuch, einen fahruntüchtigen Tanker auf Vordermann zu bringen, indem man erst mal die Kabine des Steuermanns schön bunt anstreicht. Und so keimt der Verdacht auf, daß etwas anderes bezweckt wird: der Mißbrauch mit der Kontrolle des Mißbrauchs, zwecks Einschüchterung.

Nun gibt es gewiß Mediziner, die aus Konkurrenzgründen alles bieten, was Patienten von ihnen wollen – die Existenz „schwarzer Schafe“ bestreiten nicht einmal die Standesorganisationen. Lebhaft in Erinnerung ist mir auch die schöne Geschichte von jenem Arzt im Saarland, der angeblich einen Tauschhandel mit Krankschreibungen gegen „Republikaner“- Parteieintritte betrieb. Und der Verdacht, daß die werktätige Bevölkerung besonders gern montags diffuse Beschwerden entwickeln könnte, liegt nahe – wenngleich eine neue Studie gerade an diesem (Vor-)Urteil kratzte.

Wissenschaftler der Universität Göttingen deuten da den „blauen Montag“ eher als Freiraum zum Ausheilen von Leiden, die eben am Wochenende ausgebrochen seien (gemeinerweise macht ja tatsächlich Entspannung = Adrenalinentzug erst mal anfällig). Und bei 80 Prozent der untersuchten Krankschreibungen sei zudem die Initiative keineswegs von einem nörgelnden Patienten ausgegangen, sondern vom Arzt. Längst kontrollieren außerdem eigene Prüfungsgremien der Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen, ob die Ärzte bei ihren Verordnungen zweckmäßig, ausreichend und auch wirtschaftlich entscheiden. Der Versuch, zusätzlich eine Arztpraxen-„Negativliste“ zu schaffen (während andere Unternehmer die Arzneimittel- Positivliste gleichzeitig als geschäftsschädigend bekämpfen), kommt mir also vor wie eine neue Fortsetzungsgeschichte aus der erfolgreichen Serie „Jeder gegen jeden“: Nach „Arbeithaber gegen Arbeitslose“ und „Sozialhilfeempfänger gegen den Rest der Welt“ kommt jetzt die neueste Folge: „Sägen an Errungenschaften“.

Zu denen zählt die Therapiefreiheit: Eine Woche im Bett kann man für den Körper gesünder finden als das mit Düsenflugzeuggeschwindigkeit wirksame Antibiotikum, das schnell wieder arbeitsfähig macht. Wie aber soll man seinem Arzt bei solchen Verordnungen noch trauen, wenn im Behandlungszimmer neben Herrn Seehofer jetzt auch noch der Chef Platz nimmt? Darf bald wieder nur noch der Werksarzt entscheiden, wie es mir geht?

Eine Errungenschaft ist außerdem, daß sich, wer krank ist, nicht mehr schuldig fühlen muß. Doch längst stehen den trägen Tüten, die gern mal eine Woche lang ausschlafen wollen, ebenso viele Menschen gegenüber, die aus nackter Angst auf Kosten ihrer Gesundheit in jedem Zustand auf Maloche gehen. Die Arbeitslosigkeit in Dortmund liegt bei 15 Prozent, manche sagen, sogar über 18 Prozent – reiß' sich zusammen, wer kann.

Last but not least ist der Datenschutz eine Errungenschaft: Was geht es die Funktionäre eines Lobbyistenverbandes an, welchen Arzt Frau Wuttke aufsucht? Werden sie den Mediziner demnächst auch über die Frage zur Rechenschaft ziehen, warum die Sekretärin alle drei statt alle vier Wochen ihre Tage hat, und ob man überhaupt wegen Menstruationsbeschwerden zu Hause bleiben darf? Oder wird die Schweigepflicht der Ärzte in diesem Ausmaß erst dann angenagt, wenn demnächst auch intime Daten über die Autobahn jagen? Die Unsensibilität der Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer läßt jedenfalls für den Umgang mit neuen technischen Möglichkeiten Böses ahnen. Und ich habe mir zur Sicherheit schon mal ein Buch über Spontanheilungen gekauft.

Christiane Grefe ist Redakteurin des Magazins der Süddeutschen Zeitung