Laokoon

■ Eine Ausgrabung der taz zum Lutherjahr: August Strindbergs Erzählung über die schockierenden Erlebnisse des Mönchleins Martin aus Wittenberg im dekadenten Rom des Papstes Julius II.

Auf dem esquilinischen Hügel in Rom ging eines Tages im Frühling 1506 Signore de Fredis in seinem Weinberg spazieren. Die Arbeiter hatten am Tage vorher eine Grube gegraben, um Wasser zu suchen, aber keines gefunden. Herr de Fredis blieb dabei stehen und fragte sich, ob es nicht schade sei um die aufgeworfene Erde, und ob man sie nicht im Weinberg verwenden könne. Er stocherte mit seinem Stock unten in der Grube herum, um zu fühlen, wie tief die Humuserde sei. Der Stock drang ohne jeden Widerstand hindurch und fuhr bis an die Krücke in die Erde.

„Hier muß sich ein Keller unter dem Boden befinden“, sagte er sich; dachte erst, die Arbeiter zu rufen; da es aber lustiger war, die Entdeckung selbst zu machen, nahm er eine Hacke und einen Spaten und begann die Arbeit.

Zur Mittagszeit war das Loch so groß, daß er hineinkriechen konnte; da es aber kohlschwarz drinnen war, ging er erst, um einen Laterne zu holen.

Mit dem Licht kroch er in die Erde hinunter und kam in einen gewölbten Saal. Er ging durch fünf Säle hindurch und fand keine Schätze, aber im sechsten bot sich ihm ein Anblick, der ihn erschauern ließ.

Zwei Riesenschlangen hatten sich um einen bärtigen Mann von heldischer Gestalt und um seine beiden Knaben geschlungen; die eine Schlange hatte den Mann bereits in die rechte Seite gebissen, und die andere biß den einen Knaben in die linke. Aber die Erscheinung hatte feste Formen und bestand aus penthelischem Marmor, mochte also ebensoviel Wert besitzen wie ein Schatz.

Herr de Fredis ging sofort zum Stadtpräfekten, der ihn mit dem Ädil und einigen gelehrten Männern folgte.

Das Kunstwerk wurde ans Licht gebracht, studiert und erwies sich als der trojanische Priester Laokoon, dem Apollo zwei Schlangen auf den Hals schickte, weil er seine Landsleute vor dem gefährlichen griechischen Geschenk des trojanischen Pferdes, das ja Krieger barg, gewarnt hatte.

Das war ja keine erbauliche Geschichte, und auch keine trostreiche, da sie das undankbare Los des Propheten in dieser Welt illustrierte. Daran dachte man aber nicht, sondern das Kunstwerk wurde von den Römern als ein Zeichen der Auferstehung begrüßt, ein Andenken an die Großmachtzeit und als eine Verheißung besserer Zeiten.

Papst Julius der Zweite kaufte den Laokoon für den Vatikan, nachdem Michelangelo erklärt hatte, es sei das größte Kunstwerk der Welt, und Herr de Fredis wurde mit einer Pension auf Lebenszeit bezahlt.

Ausgrabung und Putzen nahmen allerdings einige Jahre in Anspruch. Als aber schließlich das Kunstwerk soweit war, wurde es mit Blumen geschmückt und in einer Prozession durch die Straßen Roms geführt, während alle Kirchenglocken eine ganze Stunde läuteten.

Als der Zug auf die Via Flaminia zog, kam gerade vom nördlichen Stadttor ein Augustinermönch dahergewandert. Und vorm Triumphbogen des Hadrian stieß er auf die Volksmasse, die ihren geliebten Laokoon trug.

Der Mönch verstand nicht gleich; er fand allerdings, daß die Statue einem Märtyrer glich, konnte sich aber nicht an einen erinnern, der in der Schlangengrube gestorben war. Er wandte sich darum an einen Bürger und fragte auf Latein:

„Welcher von den heiligen Blutzeugen der Kirche ist das?“

Der Bürger lachte wie über einen guten Scherz, glaubte aber nicht antworten zu brauchen.

Jetzt kam die Menge, die vom trojanischen Pferde sang und Biester auf Priester reimte. Daß es ein Priester war, den die Schlange faßte, schien das Hauptvergnügen für den ungläubigen und die Priester hassenden Haufen zu bilden.

Der Augustiner dachte an seinen Virgil, als er das Wort Troja hörte, und als die Statue näher kam, konnte er den Namen Laokoon lesen, des wohlbekannten Apollopriesters.

„Läuten die Glocken für den?“ fragte er seinen Bürger wieder. Der bejahte es mit einem Nicken. „Sind die Menschen verrückt?“ fragte er von neuem; und jetzt erhielt er Antwort: „Nein, sie sind klug, aber du bist etwas dumm, wahrscheinlich aus Deutschland.“

Der Mönch hatte am Morgen dieses Tages bei Sonnenaufgang die heilige Stadt erblickt, und war auf der Landstraße auf die Knie gefallen, um Gott für die große Gnade zu danken, daß er schließlich den gesegneten Boden der Apostel und Märtyrer betreten durfte. Jetzt aber wurde ihm beklommen, denn er verstand nichts von diesem heidnischen Aufzug, und durch die Straßen der Stadt wandernd, suchte er nach der Scala Santa im Süden zu kommen, wo alle Pilger ihre Andacht hielten, wenn sie nach Rom kamen.

Hier auf dem Platze, neben dem Lateran, hatte Konstantins Gattin Helena die Treppe zum Palast des Pilatus aus Jerusalem aufstellen lassen, und es war Sitte, sie nur mit den Knien, nicht den Füßen zu betreten.

Der Augustiner näherte sich dem heiligen Orte mit all der Ehrfurcht, die sein frommer Sinn ihm einflößte, und er erwartete in diese Ekstase zu kommen, die er vor anderen Heiligtümern und Reliquien empfunden hatte, denn der Erlöser selbst hatte ja diese Marmorstufen mit schweren Schritten betreten, als er zur Verurteilung ging.

Sein Erstaunen war also groß, als er dort Straßenjungen mit Knöpfen und Steinchen spielen sah, und er konnte sich kaum beherrschen, als junge Priester angelaufen kamen und mit wenigen Sprüngen die achtundzwanzig Treppenstufen nahmen.

Er verrichtete seine Andacht auf die übliche Art, aber ohne in die Ekstase zu kommen, die er erwartet hatte.

Darauf ging er in die Laterankirche und hörte eine Messe. Er hatte sich eine Kathedrale in dem echten gotischen Stil vorgestellt, etwa wie den Dom in Köln, fand aber nur eine Basilika oder eine römische Halle, wo man früher in der heidnischen Zeit feilgehalten und gekauft hatte, und sie sah recht weltlich aus.

Am Hochaltar standen zwei Priester vor der Epistel und dem Evangelium, aber sie lasen weder noch sangen sie; sie schwatzten nur miteinander und taten nur so, als wendeten sie die Blätter; zuweilen lachten sie, und dann gingen sie ihres Weges ohne Segen oder Kreuzeszeichen.

„Ist dies die heilige Stadt?“ fragte er sich und ging wieder auf die Straßen hinaus. Sein Geschäft war, den Generalvikar der Augustiner in einer Angelegenheit des Klosters aufzusuchen, aber er wollte sich erst umsehen. Und wie er ging, kam er zu einer kleinen Kirche an der äußeren Mauer. Auf dem Platze davor hielt ein Festzug mit einem Bacchus, der auf einer Tonne ritt, einer Schar Nymphen, die mehr als halbnackt auf Pferden saßen, und dahinter Satyrn, Faune, Apollo, Merkur, Venus.

Der Mönch eilte in die Kirche, um dem Greuel zu entgehen. In dem heiligen Hause aber stieß er auf eine neue Posse. Vorm Altar stand ein Esel, der ein offenes Buch vor sich hatte; unter dem Esel saß ein Priester und las die Messe. Statt Amen zu antworten, schrie die Gemeinde das wohlbekannte iah, iah, iah, iah des Esels! Und alle Leute lachten.

Das war das klassische Eselfest, das im vergangenen Jahrhundert verboten worden, jetzt aber während des Karnevals wieder aufgekommen war.

Der Mönch verstand nicht, wie er daran war; glaubte, er sei in der Hölle der Heiden. Schlimmer aber wurde es, als ein verkleideter Priester, Bacchus selbst, mit Weinhefe im Gesicht, die Kanzel betrat und einen Sermon begann, der aus Boccaccios Dekameron stammte und so unanständig war, daß die Frauen ihr Gesicht in die Hände bargen. Mit einer geschickten Wendung im Vortrage ging der Bacchuspriester zu einer Legende von Sankt Petrus über. Es fing schön wie eine Legende an, aber gleich darauf kam Petrus in eine Schenke und prellte den Wirt um die Zeche.

Der Mönch hatte alle Qualen der Hölle gelitten; dem Priester den Rücken kehrend, ließ er seine Blicke einen Pfeiler hinauflaufen, als wollte er zum Himmel klettern und um Befreiung bitten. Die Blicke blieben beim Laubwerk des Kapitäls haften, aber im Laub kroch etwas, das einer Schlange glich. Der Mönch stürzte aus der Kirche; er hatte gesehen und verstanden, wie ein Teufel von Bildhauer aus dem syrischen Baalkult ein Phallosattribut eingeschmuggelt; ob der Pfeiler nun aus einem heidnischen Tempel stammte, oder der Bildhauer sich an dieser Mystifikation ergötzt hatte.

Er floh Straße auf, Straße ab, bis er das Kloster der Augustiner erreichte, das er suchte.

Er läutete und wurde eingelassen. Sofort ins Refektorium geführt, wo der Prior an einem gedeckten Tisch präsidierte, umgeben von Priestern, die im Kloster zu Gast waren, um während der Fastenzeit zu beichten und das Abendmahl zu nehmen. Da standen Fasanen mit Trüffeln und hartgekochte Eier, Lachse und Austern, Aale und Wildschweinsköpfe, vor allem aber Wein, in Kannen und Gläsern.

„Setz dich, Mönchlein“, grüßte der Prior, „Du hast einen Brief, gut, leg ihn unter das Tischtuch: iß, trink und sei fröhlich, denn morgen sollen wir sterben!“

Der Augustiner setzte sich, aber es war Freitag, und er konnte es nicht über sich gewinnen, an diesem Tage Fleisch zu essen. Es schmerzte ihn auch zu sehen, wie hier gesündigt wurde; doch es waren seine Vorgesetzten, und die Regel verbot ihm, einen Präpositus zu korrigieren.

Der Prior, der gerade mit einem besonderen Gast gesprochen hatte, fuhr in seinem Wortschwall fort, obgleich Gespräche verboten waren: „Ja, ehrenwerter Freund, soweit sind wir jetzt hier in Rom gekommen. Dies ist Christi Reich, wie es in der heiligen Nacht verkündet wurde: Ein Hirt, ein Schafstall! Der Heilige Vater herrscht über das ganze römische Reich, wie es unter Cäsar und Augustus war. Aber merk wohl auf, diese Herrschaft ist eine geistige, und alle diese weltlichen Fürsten liegen dem Statthalter Christi zu Füßen! Das ist die größte Epoche, die je gewesen ist. Ein Schafstall und eine Hirte!... Bibamus!

Auf der kleinen Kanzel, von der sonst ein Lektor aus heiligen Büchern vorzulesen pflegte, während die Mahlzeit vor sich ging, saßen einige Musikanten mit Flöten und Lauten. Die spielten nun eine Fanfare, und die Becher wurden geleert.

„Nun“, fuhr der Prior fort, „was Neues in der Welt, Ihr weither kommender Wanderer?“

„Neues unter der Sonne? Ja“, antwortete ein etwas angeheiterter Prälat; „Christoph Kolumbus ist gestorben und in Valladolid begraben. Starb im Elend, wie zu erwarten war!“

„Hochmut kommt vor dem Fall: Er war nicht zufrieden mit der Ehre, sondern wollte Vizekönig werden und auch Steuern erheben!“

„Jawohl, aber er ist jedenfalls nach Indien gekommen; nach Ostindien, indem er nach Westen segelte: Kann man nicht verrückt werden, wenn man das zu denken sucht. Nach Westen segeln, um nach Osten zu kommen!“

„Es ist alles etwas verrückt, aber das schlimmste ist, daß er die verfluchte Krankheit lues (hier flüsterte er) hierhergebracht hat; sie hat bereits den Kardinal Johann von Medici ergriffen; ihr wißt, der soll der Nachfolger des Papstes werden...“

„Was den Heiligen Vater angeht, unsern großen Julius II., so ist das ein gewaltiger Kämpfer des Herrn, und jetzt hat die Welt gesehen, wie dieses Basiliskenei Gallien ausgebrütet wurde. Denkt euch, die wollen nun auch kommen und unser Italien teilen. Als ob wir nicht genug von den Deutschen hätten!“

„Die Franzosen in Neapel! Was zum Teufel haben wir mit denen zu tun!“

Jetzt fand sich der Prior veranlaßt, auf seinen Gast, den Augustiner, aufmerksam zu werden:

„Iß, Mönchlein!“ sagte er. „Wer schwach ist, der esse Kräuter, und alles Fleisch ist Heu, ergo...

„Ich esse nie Fleisch am Freitag, dem Marter- und Todestage unseres Herrn Jesu Christi!“

„Da tust du unrecht! Aber du muß nicht so laut sprechen, verstehst du; wenn du sündigst, muß du in deine Kammer gehen und dein Maul halten! Übe dich jetzt in Gehorsam und Schweigen, den ersten Tugenden unseres Ordens.“

Der Augustiner wurde erst rot, dann ganz bleich, und die Wangen, die vorher mager waren, klebten wie feuchte Felle an den Backenknochen. Aber er schwieg, nachdem er einen Löffel Salz in den Mund genommen, um seine Zunge zu züchtigen.

„Das ist ein Makkabäer!“ flüsterte der Prälat.

„Die Klosterzucht ist im Verfall“, fuhr der scherzhafte Prior fort; „die jungen Mönche gehorchen ihren Vorgesetzten nicht mehr, aber hier soll refomiert werden!... Trink, Mönch, und tu mir Bescheid!“

„Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen!“ antwortete der Mönch.

Eine Verstimmung entstand, und der Prälat, der abends das heilige Abendmahl geben mußte, weigerte sich, mehr zu trinken. Das verletzte aber den Prior, der den Vorwurf auf sich bezog.

„Du bist vom Lande, mein Freund, und kennst nicht die Zeit und den Zeitgeist. Du sollst eine licentia von mir haben (kostet natürlich ein Stück Geld), dann ist der Tag nicht entehrt. Übrigens... panis es et esto! Hier hast du Wein und Brot... mit Butter drauf! Neuen Wein, Ganymedes! Das ist mein Knabe, ich liebe jetzt Knaben...“

„Aber hör mal, hör mal!“ warnte der Prälat.

„Beichte du jetzt mir, dann gleicht es sich aus. Wie geht's deiner alten Johanna, oder hast du eine neue?“

Der Augustiner erhob sich, um zu gehen; da aber erwachte der Prior zur Besinnung.

„Wie hießest du doch, Mönch!“

„Mein Name ist Martin, Magister der Philosophie aus Wittenberg.“

„Ja, ja, ich danke! Aber geh noch nicht, gibt mir deinen Brief!“

Der Mönch überreichte den Brief, den der Prior öffnete und durchsah:

„Der Kurfürst von Sachsen!... Herr Magister Martinus Lutherus, geht, wenn Ihr wollt, auf Euer Gastzimmer. Ruhet Euch dort aus bis zum Abend, dann gehen wir zusammen in die Gesellschaft bei Chigi; dort treffen wir feine Leute, wie den Kardinal Johann von Medici; große Männer, wie Raffael und den Erzengel Michael selbst. Kennt Ihr Michelangelo, der die neue Peterskirche baut und die sixtinische Kapelle ausmalt? Nein, dann werdet Ihr ihn kennen lernen! Vale, frater, und schlaft gut!“

Der Magister Martin Luther ging, zu Tode betrübt, aber doch entschlossen, mehr von dem Elend zu sehen, um sich nicht in seinem Urteil zu übereilen.

Jetzt wurden Kartenspiele vorgenommen, und der Prior mischte.

„Das ist ein unangenehmer Mensch, den der Kurfürst uns geschickt hat. So ein Heuchler, der nicht Wein trinkt und sich vor einem Fasan bekreuzt!“

„Etwas Verhängnisvolles war an dem Mann!“

„Er sah beinahe aus wie das trojanische Pferd; und was er im Bauch trägt, weiß Beelzebub!“

Als Luther in seine einsame Zelle kam, weinte er des jungen Mannes grenzenlosen Kummer aus, daß die Wirklichkeit so ganz anders ist als seine Vorstellungen, und daß alles, was er zu schätzen gelernt, nur verächtlich und niedrig ist.

Er konnte aber nicht lange allein sein, denn es klopfte an die Tür, und herein trat ein junger Augustiner, der ihn mit vertraulicher Miene einlud, mit ihm Bekanntschaft zu machen.

„Bruder Martin, du mußt nicht einsam sein, sondern du mußt dein Herz teilnehmenden Freunden öffnen.“

Er ergriff Martins Hände.

„Sag mir“, furt er fort, „was dich bedrückt, und ich werde antworten.“

Luther betrachtete den jungen Mönch, und er sah wohl, daß es ein schwarzer Welscher mit flimmernden Augen war; er war aber solange einsam gewesen, daß das Bedürfnis des Sprechens siegte.

„Was, glaubst du, würde der Herr Christus sagen, wenn er jetzt auferstände und in die heilige Stadt einträte?“

„Er würde sich freuen, daß sich seine Kirche, seine dreihundertfünfundsechzig Kirchen, auf den Grundmauern der heidnischen Tempel erheben! Du weißt, seit Karl der Große Pfeiler und Marmor bis nach Aachen schleppte, um die Domkirche zu bauen, sind unsere Päpste ebenso zu Wege gegangen, und die Heiden und ihre Häuser wurden buchstäblich dem Herrn Christus zu Füßen gelegt. Das ist ja groß und erfreulich. Ecclesia triumphans! Würde sich Christus nicht darüber freuen? Wie schön hat nicht Innozenz III. die Idee der siegreichen Kirche formuliert, wie Plato es genannt haben würde. Du kennst Plato – ja, der Papst hat eben für eine Handschrift des Timaios fünftausend Dukaten bezahlt! Innozenz sagt: ,Sankt Peters Nachfolger hat von Gott den Auftrag erhalten, nicht nur die Kirche zu lenken, sondern die ganze Welt. Wie Gott an den Himmel zwei große Lichter gesetzt hat, hat er auch auf Erden zwei große Mächte aufgerichtet, nämlich die Papstmacht, welche die höhere ist, weil die Pflege der Seelen ihr auferlegt worden, und die Königsmacht, welche die niedrigere ist, und der nur die Körper der Menschen anvertraut sind.‘ Hast du etwas dagegen einzuwenden, Bruder, so sag es!“

„Nein, nicht dagegen, sondern gegen... alles, alles, was ich gesehen und gehört habe.“

„Zum Beispiel! Meinst du Essen und Trinken?“

„Ja, das auch.“

„Wie kleinlich du bist! Ich spreche von den höchsten Dingen, und du antwortest mit Essen und Trinken. Pfui. Martin, du bist ein Fresser und ein Malztürke! Aber, accipio! Unser Herr Christus ließ seine Schüler am Sabbat Ähren lesen; das war gegen das Gesetz Mose und wurde von den Pharisäern mißbilligt. Du bist ein Pharisäer. Aber jetzt will ich dich auch an das erinnern, was der Apostel Paulus an die Römer schreibt – gerade die Römer, zu denen wir uns rechnen; vielleicht hast du als deutscher Untertan nicht das Recht, es zu tun... Also Paulus schreibt: ,Seht ihr auf das Äußere?‘“

„Verzeiht, daß ist der Korintherbrief.“

„Oh! Du sieht also auf das Äußere!... Aber Paulus sagt weiter: ,Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles ist mir nützlich. Alles, was feil ist auf dem Fleischmarkt, das esset und forschet nicht, auf daß ihr das Gewissen verschonet. Denn die Erde ist des Herrn, und alles, was darinnen ist.‘ Das sind klare Worte, und ihre Gesinnung würde ein Franzose large nennen. Du aber kommst wie ein Pharisäer her und willst Vorgesetzte wegen Lappereien strafen; und Menschensatzungen sind dir mehr als Gottes Gebot. Pfui, Martin, erinnere dich an deine eigenen Worte: Man soll Gott mehr gehorchen als den Menschen! Du hochmütiger Buchstabenknecht, du solltest Paulus lesen, du!“

Luther war noch nicht so zu Hause in den Heiligen Schriften, denn im Kloster hatte er Corpus iuris, Aristoteles, Virgil und Plauti Komödien studiert, auch war er nach seinen schweren inneren Kämpfen etwas verzagt; darum blieb er die Antwort schuldig, während der Zorn in ihm kochte.

„Hast du noch eine Frage an mich?“ fing der Augustiner wieder an, mit einer gemachten Teilnahme, die Luther noch mehr reizte. „Ich kann es verstehen, daß unsere Volkssitten dich als Fremdling verletzt haben. Jedes Land hat seine Sitten, und wir feiern unsern römischen Karneval damit, daß wir die toten Götter der alten Heiden lächerlich machen... wenn man sie Götter nennen kann! Ich vermute, daß ihr in Deutschland dasselbe tut, wenn auch auf eine plumpere Art! Darein mußt du dich finden. Was das Eselfest betrifft, so hatte das ursprünglich eine schöne Bedeutung, da das arme Tier mit dem Auftrag beehrt wurde, unsern Erlöser und seine Mutter ins Ägyptenland zu tragen. Aber, wie du weißt, alles Große und Schöne muß ja vom Pöbel in den Staub gezogen werden. Können wir dafür?... Kann ich dir irgendeinen Dienst leisten? Wünschest du etwas?“

„Nichts! Aber ich danke dir! Danke!“

Luther war wieder allein, und die Hölle des Zweifels war wieder losgelassen. Der Mann hatte ja von seinem Standpunkte aus recht gehabt, und er hatte seine Behauptungen mit Vernunftgründen und mit Paulus bekräftigt. Aber sein Gesichtspunkt war falsch; da lag es. Wie konnte man also seinen Gesichtspunkt ändern? Das konnte nur der Glaube durch die Gnade tun! Also nicht Menschenwerk!

Darauf begann sein grübelnder Geist, der in der Dialektik des Aristoteles erzogen war, den Gesichtspunkt des Widersachers zu untersuchen.

Ein barmherziger, liebreicher Gottvater konnte wohl über die Torheiten und Schwächen der Menschenkinder lächeln, warum sollten nicht auch wir es tun können? Warum sollten wir strenger sein? Solange wir hier im Fleisch wandern, müssen wir fleischlich gesinnt sein, was nicht hindert, daß der Geist das Seine erhält.

Sagte Paulus nicht selbst: „So halten wir nun dafür, daß der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“

Jawohl, aber waren diese Schlemmer und Knabenschänder wirklich gläubig? Der Prior hatte ja das Sakrament gelästert, für Geld dem Prälaten Beichte und Abendmahl erlassen. Das waren heidnische Unwesen und satanische Greuel!

Allerdings, aber der Glaube war eine Gnadengabe, und wenn diese die Gnade nicht erhalten hatten, so waren sie unschuldig. Doch, es waren verstockte Sünder!

Darauf antwortete wiederum Paulus: „Der Herr nimmt auf, wen er will, und verstockt, wen er will. Hatte Gott sie verstockt, wie er Pharaos Herz verstockte, dann waren sie doch unschuldig; und waren sie ohne Schuld, warum wagten wir zu richten und zu verdammen?“

Ein Mühlrad ging ihm im Kopf herum, und er schalt den Aristoteles, den Heiden, der ihn in seinerJugend verführt und gelehrt hatte, über einfache Wahrheiten zu grübeln; und er fühlte, daß auch Paulus nicht helfen konnte, da er einmal so lehrte, einmal so!

Zermahlen warf er sich auf den Betschemel nieder und bat Gott, ihn aus dieser Welt von Lug, Trug und Ungewißheit fortzunehmen; man war ja in dieser Welt von Fin

sternis umgeben, ohne ein Licht anzünden zu können; man wurde ja in diesem Leben zum Kampfe getrieben, ohne Waffen erhalten zu haben. Und er betete und kämpfte bis zum Abend. Da kam der Prior und holte ihn.

„Mein Sohn“, sagte er, „mein lieber Bruder; du mußt mit der Religion nicht buhlen und sie nicht als Handwerk oder Laster üben. Du mußt das Leben leben, es als Melodie nehmen, während die Religion wie eine leise Begleitung nebenher geht. Alltags Arbeit, sonntags Ruhe und Fest! Wenn du aus dem Alltag einen Sabbat machst, so sündigst du!... Komm, jetzt werde ich dir Rom zeigen!“

Martin folgte, aber widerwillig. Die Straßen waren erleuchtet, und die Menschen ergötzten sich an Tanz, Musik und Gaukelspiel.

„Du mußt wissen, wohin wir gehen“, sagte der Prior. „Dieser Agostino Chigi ist ein Bankier, beinahe ebenso reich wie das Haus Fugger in Augsburg, und er besorgt die Geschäfte des Papstes. Daneben ist er ein Mäzen, der die schönen Künste aufmuntert; besonders beschützt er unseren Raffael, der eben in Chigis Villa große schöne Bilder gemalt hat, die wir jetzt besehen wollen.“

Sie erreichten den Tiber, folgten dem rechten Ufer, gingen über eine Brücke und standen vor einem Garten, der von Marmorpfeilern und einem vergoldeten Eisenstaket eingehegt war. Es war Abend, und der Garten war mit Laternen erleuchtet, die an den Zweigen der Orangenbäume hingen und die reifen Früchte so beschienen, daß sie wie Gold glänzten. Weiße Marmorstatuen waren zwischen den dunkelbelaubten Bäumen aufgestellt; Wasserkünste mit wohlriechendem Wasser spielten; in Gebüschen sah man Gruppen schöner Damen und ihrer Cicisbei; ein Sänger sang in einem Gebüsch zur Laute, und in einem andern las ein Dichter seine Gedichte vor.

Aber mitten unten im Park lag die Villa, die der des Mäcenas in den Sabiner Bergen oder Ciceros Tuskulum glich, und sie war mit den Götterbildern der Heiden geschmückt. Die Türen standen offen und Musik klang heraus.

„Hier wird man dem Wirt nicht vorgestellt, denn er liebt die Freiheit“, sagte der Prior; „darum lasse ich dich jetzt allein, und du mußt dir selbst Bekanntschaften suchen: Überraschungen sind ja immer angenehm!“

Luther war allein, und unschlüssig ging er nach rechts, wo sich eine Flucht erleuchteter Zimmer zeigte. Gäste saßen in allen Zimmern, tranken und plauderten; niemand aber wurde auf den armen Mönch aufmerksam, der ungestört die Gespräche anhören konnte.

Im ersten Zimmer hatte sich eine Gruppe um einen Mann versammelt, der Exemplare eines gedruckten Buches verteilte, in dem man gierig blätterte.

Hylacomylus? Ist das ein Pseudonym?“ fragte einer.

„Das ist ein Buchdrucker Waldseemüller in Saint-Dié.“

Cosmographiae Introductio, eine Beschreibung der neuen Welt!“

„Endlich wird man Bescheid erhalten über diese Fabeln des Kolumbus...“

„Kolumbus fährt nicht mehr.“

„Kolumbus ist zur... Hölle gefahren! Jetzt ist Amerigo Vespucci an der Reihe.“

„Ein Florentiner, also ein Landsmann.“

„Kolumbus war doch ein Genueser!“

„Seht ihr, Rom beherrscht die Welt, die bekannte und die unbekannte: Urbs ist urbs! Und heute könnt ihr alle Völker der Welt beim Römer Chigi treffen. Ich habe sogar Türken, Mongolen, Dänen und Russen heute Abend hier.“

„Den Türken möchte ich sehen! Ich liebe die Türken, am meisten, weil sie das verfaulte Byzanz in die Luft gesprengt haben, das sich Ost- Rom zu nennen wagte! Jetzt gibt es nur ein Rom!“

„Wißt ihr, daß unser Heiliger Vater (wenn er Ansprüche erhebt, heilig zu sein) mit Bajazet über Hilfe gegen Venedig unterhandelt?“

„Ja, aber das ist zu teuflisch! Wir müssen doch wenigstens so tun, als seien wir Christenmenschen.“

„So tun, ja; denn ein Christ bin ich nicht, und ihr auch nicht!“

„Muß man eine Religion haben, so wäre es die Mohammeds: Gott ist einer! Das ist die ganze Theologie. Ein Stück Matte zum Beten, das ist die ganze Liturgie...“

„Ein Waschbecken gehört dazu...“

„Und ein Harem...“

„Köstlich ist es jedenfalls mit unserer Religion bestellt! Liest man ihre Geschichte, so ist es die Geschichte vom Verfall des Christentums... und das ist immerzu verfallen, eintausendfünfhundert Jahre seit den Tagen der Apostel, bald muß es wirklich verfallen sein!“

„Und liest man die Geschichte des Papsttums, so ist es auch dort nur Verfall!“

„Nein, seid still“, unterbrach ein fetter Kardinal; „ihr könnt den Papststuhl wohl stehen lassen, bis ich mich habe darauf setzen können!“

„Nach einem Borgia würde es uns gut kleiden, einen Medici wie dich zu bekommen, und zwar einen Sohn von Lorenz dem Prächtigen.“

„Werden die Kardinäle nicht tanzen?“ fragte der, der Chigi selbst sein mußte.

„Doch, aber nach dem Souper, im Pavillon und hinter verschlossenen Türen“, antwortete der Mediceer, „und nachdem ich den roten Hut aufgehängt habe.“

Luther hatte aus dem Zusammenhang so viel verstanden, daß er die Vertreter der höchsten Priesterschaft gesehen und gehört hatte, und daß der Fette Johannes von Medici war, der Kandidat für den Papststuhl.

Er ging schnell durch mehrere Zimmer, in denen halbnackte Frauen berauscht auf den Knien ihrer Liebhaber lagen.

Schließlich kam er in den großen Festsaal. Dort standen Gruppen von allen Völkern der Welt, Gesandte und Pilger, die das Antlitz gegen die Decke erhoben und die Gemälde bewunderten.

Luther folgte ihrem Beispiele, während er ihre Worte anhörte:

„Das ist ja, als sehe man den Himmel an; man muß sich auf den Rücken legen.“

„Ich kenne nichts Schöneres als einen Sonnenaufgang und ein nacktes Weib!“

„Seht ihr, Gottvater sitzt selber dort und kost die kleine Psyche!“

„Das mag noch hingehen, aber dort küßt er den Knaben Amor!“

„Der göttliche Raffael!“

„Welches Glück, daß Savonarola verbrannt ist, sonst hätte er auch diese Malereien verbrannt!

Beim Namen Savonarola erwachte der ernste Mönch aus dem Rausch der Sinne, in den ihn die schönen Malereien gebracht hatten, und er stürzte in die Nacht hinaus. Savonarola, der letzte Märtyrer, der das Christentum zu retten versuchte und deshalb verbrannt wurde. Alle wurden verbrannt, die Christus dienen wollten. So wurde man aufgemuntert! Wie konnte man da verlangen, daß die Menschen glauben.

Sein Kummer aber war doppelt, denn dieser Maler, der den Namen eines Engels trug und wie ein Engel aussah, er malte Zeus und nackte Frauen! Nichts hielt, was er versprach, alles war Staub und Asche. Vanitas!

Aber dieses Heidentum, das aus der Erde stieg, was wollte es? Dante, der göttliche, hatte einen römischen heidnischen Poeten, Virgil, zum Begleiter durch die Hölle gewählt, und ein schönes Mädchen zur Gesellschafterin gen Himmel! Das war ja Torheit und Lästerung!

Das Ende der Welt nahte, denn der Antichrist war gekommen und saß mitten in Rom! Aber ein Antichrist hatte immer auf dem Papststuhl gesessen, der darum von Übel war; denn Paulus hatte gelehrt, daß in Christi Gemeinde wir alle Priester sein und ein Priestertum bilden sollen...

So erreichte er wieder seine Zelle, in deren Einsamkeit er sich und seinen Gott wiederfand.

Am folgenden Morgen ging er hinaus, um die Petruskirche aufzusuchen, und den Vatikan, der nach der Päpste Rückkehr aus Avignon Residenz geworden war.

Da er die Stadt nicht kannte, geriet er aufs Forum. Dort waren viele Truppen zur Musterung versammelt, und auf einem großen schwarzen Hengst saß ein alter Mann, der vom Kopf bis zur Zehe in Eisen gekleidet war. Vor ihm defilierte das Heer, und er schien der Feldherr zu sein.

„Er sieht wie ein Rabbiner aus“, sagte ein Bürger, „und er zählt jetzt wohl seine 65 Jahre.“

„Ich finde, er ist dem Propheten Mohammed ähnlich! Und er fing auch als Kaufmann an...“

„Hat ja den Papststuhl gekauft...“

„Das mag noch hingehen! Als er aber Karl VIII. mit den Franzosen nach Neapel rief, da war er ein Landesverräter. Jetzt zieht er gegen Venedig und führt die Truppen selbst...“

„Und erwartet Hilfe von Türken.“

„Sie sollen mit den Türken nicht spielen! Er steht bereits in Ungarn und zieht auf Wien!“

„Wir haben die Kreuzzüge vergessen, und Duldsamkeit ist sehr schön...“

„Ja, sie unternahmen ja schließlich einen Kreuzzug gegen die christlichen Albigenser, während sie sich um die Gunst der Mohammedaner auf Sizilien bewarben...“

„Die Welt ist ein Irrenhaus...“

Das war also Papst Julius II., der das Ungeheuer Alexander VI. Borgia bekämpft hatte und jetzt als Heerführer gegen Venedig zog. Sein Reich war ganz deutlich von dieser Welt, und Luther verlor alle Lust, um eine Audienz nachzusuchen. Er ging jetzt nach dem leoninischen Stadtteil hinunter, wo die neue Peterskirche gebaut werden sollte, auf dem Boden der niedergerissenen, die wiederum auf Neros Zirkus gefolgt war, in dem die ersten Märtyrer den Tod erlitten. Er fand den Bauplatz von einem eisernen Zaun gesperrt; aber am Eingang standen zwei Dominikaner und ein Zivilist, der einem Kontoristen glich. Zwischen sich hatten sie einen großen eisernen Kasten, und die Mönche schrien die Vergebung der Sünden für soundso viel aus. Alle, die eintreten und sich den Bau ansehen wollten, warfen dem Kontoristen Geld zu, der es zählte und aufschrieb, denn er war vom Haus Fugger angestellt, das den Ablaß in Entreprise genommen hatte.

Luther wollte sehen, und ohne zu überlegen, gab er einige Silberstücke hin. Als Quittung erhielt er ein Papier, auf dem die Formel für die Vergebung einiger kleiner Sünden stand. Als er das Papier gelesen hatte, gab er es zurück und brach los: „Vergebung der Sünden kaufe ich nicht, aber den Eintritt bezahle ich gern.“

Er trat auf den Bauplatz, bemerkte aber jetzt, daß ihm der dunkeläugige Augustiner folgte:

„Bist du unzufrieden, Bruder“, sagte der; „meinst du, daß man Vergebung der Sünden kauft? Wer hat das gesagt? Weißt du nicht, daß das bürgerliche Gesetz Geldstrafe für Vergehen festsetzt? Warum soll das kirchliche Gesetz nicht dasselbe tun? Sag mir einen Grund?... Pfui, wie du sprichst!... Kauft? Du gibst Geld fort; dadurch beraubst du dich einiger Genüsse! Statt Wein und Weiber zu kaufen, schenkst du dieses Geld der Kirche. Gut! Damit hast du auf die Sünde verzichtet, mit der du dich sonst befleckt hättest...“

„Wo lernt ihr solche Sprache?“

„Wir lernen hier in den Schulen denken, siehst du, wir lesen Cicero und Aristoteles.“

„Lest ihr auch die Bibel?“

„Ja, gewiß! Die Epistel liegt stets neben dem Evangelium auf dem Pult des Altars...“

„Versteht ihr auch, was ihr lest?“

„Jetzt bist du unhöflich, Martin, aber du bist auch hochmütig, und das mußt du nicht sein... Sieh dir jetzt die neue Kirche an. Das ist allerdings nur das Fundament, aber wir gehen hier in die Hütte zum Baumeister, dort können wir die Zeichnungen sehen.“

In einem kleinen Pavillon waren die Zeichnungen aufgehängt, und gegen ein neues Eintrittsgeld kamen sie hinein.

„Nun, was sagt mein kritischer Bruder?“

„Das ist ja ein römisches Badehaus“, antwortete Luther nach einem Blick. „Caracallas Thermen, glaube ich! Ein Heidenhaus also!“

„Ja, wenn man so will, aber alles ist heidnisch, wenn auch getauft. Die Heiden waren nicht so dumm...“

„Ich will nicht mehr sehen!“

„Doch, du mußt zwei große Männer dort im Bau sehen, ehe du gehst!... Der große Mann mit dem Mosesbart, das ist Michelangelo, und jener schmale Jüngling mit dem langen Hals und den weiblichen Zügen, das ist Raffael...“

„Ist das Raffael?“

„Ja, er sieht wie ein Engel aus, aber es ist nicht so gefährlich. Er ist ein sehr guter Mensch; man denkt ihn zu verheiraten... Aber er will nicht, denn er strebt nach einem Kardinalshut, den man ihm versprochen hat...“

„Kardinalshut...“

„Ja, sein Sinn geht aufs Geistige, wenn er auch weltliche Dinge malt...

„Ich erinnere mich, aber ich will's vergessen.“

„Hör mal, Martin!“ fiel da der Augustiner mit einer beleidigenden Vertraulichkeit ein; „wenn du einmal von hier fortgehst, wenn du nach Haus kommst, so vergiß nicht, die Zunge im Zaum zu halten! Denke an das, was ich dir sage: Du hast Augen und Ohren, die dir folgen, wohin du gehst, und wo du's nicht glaubst!“

„Wenn der Herr mit mir ist, was können die Menschen mir tun?“

„Bist du sicher, daß der Herr mit dir ist? Kennst du seine Wege und seinen Willen? Du allein? Kannst du seine Meinung deuten, wenn er spricht?“

„Ja, das kann ich! Denn ich höre seine Stimme in meinem Gewissen! Und weiche jetzt von mir, Satan, oder ich bete, daß der Blitz des Himmels dich trifft!... Ich kam hierher als ein gläubiges Kind, aber ich gehe fort als ein gläubiger Mann, denn deine Zweifel haben nur meine stillen Antworten hervorgerufen, die du nicht gehört hast, die du aber einst hören wirst! Savonarola habt ihr getötet, aber ich bin jung, ich bin stark, und ich werde leben! Merk dir das!“

Luthers Aufenthalt in Rom dauerte nicht lange. Aber er benutzte die Zeit, um Hebräisch zu lernen, und besuchte die Vorlesungen des Juden Elia Levi Ben Ascher, genannt Bachur oder Elias Levita.

Dort traf er den Beschützer der Juden, den Kardinal Viterbo, und viele andere Berühmtheiten, denn die morgenländischen Sprachen waren damals in Mode, nachdem die Türken sich in Konstantinopel festgesetzt hatten.

Und Luther genoß die Freundschaft des alten Juden, denn Elias war der einzige „Christenmensch“, den er in Rom fand. Schade nur, daß er unter dem Gesetz lebte und nicht das Evangelium kannte, aber er verstand es nicht besser.