Luthers römischer Kulturschock

Ende 1510 wurde der Augustinermönch Martin Luther in Ordensangelegenheiten nach Rom geschickt. Er würde vier Wochen lang bleiben.

Die Reise wurde ein Wendepunkt im Leben des damals 27jährigen Paters, ein Urerlebnis des späteren Reformators. „Wie ein frommer Pilger begab er sich in die Stadt der Wallfahrten“, schreibt Lucien Febvre in seiner Luther-Studie („Martin Luther“, Campus Verlag 1996), „in das Rom der Märtyrer, lebendiges Zentrum der Christenheit, gemeinsames Vaterland aller Gläubigen, erhabene Residenz des Stellvertreters Gottes. Was aber sah er? Das Rom der Borgia, das seit kurzem zum Rom des Papstes Julius geworden war. Als Luther voller Bestürzung dieses verfluchte Babylon mit seinen Kurtisanen und bravi, seinen Kupplern und käuflichen Priestern, seinen ungläubigen und verdorbenen Kardinälen wieder verließ, um in seine Heimat zurückzukehren, nahm er (...) einen unauslöschlichen Haß gegen die Große Kupplerin mit. Damit war die Reformation virtuell bereits vollzogen.“

Wieviel Luther von der Korruption, der Prasserei, den sexuellen Ausschweifungen im damaligen Rom wirklich mit eigenen Augen zu sehen bekommen hat, ist allerdings umstritten. Sein Biograph Richard Friedenthal (Vgl. dessen „Luther“, Serie Piper) malt ein anderes Bild von der womöglich folgenreichsten Romreise der Geistesgeschichte: Da kam ein verzweifelt frommer Mönch aus dem unwirtlichen Norden, der nicht viel vom Leben wußte und schon die sauberen Betten in den Florentiner Hospitälern wie ein Weltwunder bestaunte, in eine für den Provinzler schwer verständliche Stadt. Von seinem Kulturschock angesichts des Treibens der Päpste und Kardinäle zeugen seine späteren Äußerungen über das „Gewürm und Geschwürm“ in der unheiligen Stadt. Luther, der dem kriegerischen Papst Julius II., dem Auftraggeber Michelangelos, nie begegnet ist, hat die meisten Skandalgeschichten wohl aus dem Klatsch, einem auch im Kloster beliebten Massenmedium, aufgeschnappt: „Ich glaubte alles“, sagte er später.

Luther darf man sich auf seiner Reise nicht als Touristen vorstellen. Sein Ziel war der Große Ablaß, die Generalabsolution, die man als Pilger durch Besuch der sieben heiligen Stätten im Laufe eines Tages und anschließende Generalbeichte erlangen konnte. Höhepunkt solcher Pilgerfahrt: auf den Knien die 28 Stufen jener Treppe zu erklimmen, die Jesus auf dem Weg zum Palast des Pilatus hinaufgeschritten war. (Sie war der Legende nach unversehrt durch die Engel nach Rom versetzt worden.) Für jede einzelne Stufe gab es neun Jahre Ablaß, die mit einem Kreuz bezeichnete Stufe, auf der Christus zusammengebrochen war, zählte doppelt.

Die Reste des antiken Rom hat Luther kaum zur Kenntnis genommen, und wenn, dann – sehr im mittelalterlichen Geist befangen – als Zeugnisse des siegreichen Christentums.

August Strindberg benutzt die überlieferte Unvertrautheit des deutschen Mönchs mit der Kultur der Antike für die Eingangsszene seiner Erzählung. Er läßt Luther auf die Laokoon-Gruppe treffen, deren Hauptfigur, den trojanischen Appolonpriester, er für einen Märtyrer, einen „Blutzeugen der Kirche“ hält. (Laokoon warnte die Trojaner vergeblich vor dem hölzernen Geschenk der Griechen, das als das „Trojanische Pferd“ sprichwörtlich geworden ist.) Zwar wurde die Statuengruppe des Laokoon tatsächlich 1506 in Rom gefunden, die Szene ist aber eine Erfindung Strindbergs. Den frommen Mönch Luther sollen wir uns nach Strinberg – ganz wie es sein zeitweiliger Briefpartner Nietzsche sah – als Trojanisches Pferd des Glaubens vorstellen. Aber lesen sie selbst... jl