Entdeckungsreise zu uralten Grabsteinen

Ein englischer Historiker und ein österreichischer Slawist schreiben gegen das Vorurteil an, die bosnischen Muslime seien in einer historisch begründeten Todfeindschaft gegen ihre serbischen und kroatischen Landsleute gefangen  ■ Von Christian Semler

Auch wenn in der öffentlichen deutschen Meinung kaum noch angezweifelt wird, daß Bosnien-Herzegowina seit 1992 einer planmäßigen serbischen Aggression zum Opfer fiel, so wird diese Einsicht doch überlagert von einem scheinbar eingängigen Erklärungsschema. Hiernach wäre der tiefere Grund für den bosnischen Krieg in der Geschichte der Völker zu suchen, die die Region bewohnen.

Gleich einem Individuum, bei dem frühere, verdrängte Verletzungen aufbrechen und zur offenen Neurose führen, sollen auch im Falle Bosniens tief in der Geschichte angelegte Konflikte zwischen Muslimen, Kroaten und Serben, die die kommunistische Herrschaft nur überdeckte, nicht auflöste, die eigentliche Ursache des allgemeinen Abschlachtens bilden. Die Darstellung des Konflikts als atavistisches Horrorszenario führt nicht nur dazu, den Angriffskrieg letztlich doch mit den Kategorien des Bürgerkriegs zu verstehen. Sie verhilft uns darüber hinaus auch noch zu wohlfeilen Überlegenheitsgefühlen. Sind wir doch selbst als vom chauvinistischen Wahn geheilte Patienten entlassen, sind wir doch „Post-Nationalisten“, gefeit vor Anfechtungen der bosnischen Art.

Der Historiker und Journalist Noel Malcolm hat sich in seiner soeben erschienenen „Geschichte Bosniens“ vorgenommen, gerade gegen dieses bequeme Vor-Urteil von der Erbfeindschaft zwischen den Völkern Bosnien-Herzegowinas anzuschreiben. Freilich nicht dadurch, daß er den einen Mythos mit Hilfe eines zweiten, der idyllischen Vorstellung einer stets geschichtlich wirksamen Multikulturalität, austreibt. Sondern durch die präzise Darstellung historischer Problemlagen. Sein Resumee: Es gibt kein Kontinuum innerer Spannungen zwischen den in Bosnien-Herzegowina lebenden Völkern. Konflikte hatten ihre Ursache in sozialen, nicht aber in religiösen oder gar ethnischen Gegensätzen. Die Rivalität der Bosnien umgebenden Großmächte war für die Kriege verantwortlich, unter denen das Land durch die Jahrhunderte zu leiden hatte. Den größten Nachruhm genießen jene Herrscher, die den Völkern Bosniens und der Herzegowina ein wenig Zeit zum Atemholen ließen.

Malcolm vertraut dem kritischen Urteil seiner Leser so weit, daß er sie mit sich führt in die Labyrinthe der Sprachgeschichte, der historischen Topographie, der Interpretation von Textfragmenten wie von Grabsteinen. Und diese Entdeckungsfahrt ist weit davon entfernt, ihre Spannung aus der künstlichen Dramatisierung längst bekannter Fakten zu ziehen. Fast alles in der Geschichte Bosnien-Herzegowinas ist heute umstritten. Neue Quellen, vor allem türkischer Herkunft, zwingen dazu, die Voraussetzungen einer ideologischen, auf die Konstruktion von „Identitäten“ basierenden Geschichtsbetrachtung zu überprüfen.

Das Buch hat seine stärksten Seiten, wo es die mittelalterliche und die frühneuzeitliche Geschichte Bosniens und der Herzegowina nachzeichnet. Ein Lehrstück für Malcolms entmythologisierende Methode ist die Behandlung der „bogumilischen Häresie“, benannt nach der aus Bulgarien stammenden gleichnamigen Sekte. Es geht um die Geschichte der „bosnischen Kirche“, die im Mittelalter von Rom abfiel, manichäistisch und gegen die Dreieinigkeit in der Doktrin und antihierarchisch im Kirchenaufbau gewesen sein soll, und die schließlich, kurz vor der türkischen Invasion 1463, angeblich liquidiert wurde.

Die orthodoxe, teils auch die katholisch inspirierte Geschichtswissenschaft behauptet nun, große Massen der zwangsbekehrten Häretiker seien zum Islam übergelaufen und hätten im 15. Jahrhundert die Basis der türkischen Besatzungsmacht abgegeben. Einmal Landesverräter, immer Landesverräter. Umgekehrt bildete sich im Milieu der muslimischen Intelligenz um die Jahrhundertwende die Überzeugung heraus, daß es zwischen dem bosnisch eingefärbten Islam und der häretischen bosnischen Kirche des Mittelalters eine unterirdische Traditionslinie gebe. In dieser „bogumilischen Komponente“ liege ein Bildungselement für die bosnisch-muslimische Autonomie.

Malcolm weist nun nach, daß es weder die bosnische Häresie in der behaupteten Form gegeben habe, noch eine massenhafte Zwangsbekehrung, noch einen kollektiven Übertritt zum Islam. Dabei stützt er sich auf die Erkenntnisse, die bosnische Wissenschaftler aus der Analyse der türkischen Steuerlisten gewonnen haben, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg entdeckt worden waren. Malcolm kommt zu dem Schluß, daß die Bekehrung zum Islam sich in einem langen historischen Prozeß vollzog und daß sie in Bosnien deshalb erfolgreich war, weil die Kirchenorganisationen schwach verankert waren und mehrere christliche Kirchen miteinander rivalisierten.

Aufklärungsarbeit leistet Malcolm auch, indem er die These widerlegt, nach der unter der türkischen Herrschaft jahrhundertelang in Bosnien kulturelle Wüstenei geherrscht habe – eine Ansicht, die sich, mit verhängnisvollen Folgen, schon in der Dissertation des bosnischen Dichters Ivo Andrić von 1924 findet. Malcolm antwortet ihm, indem er vor uns die Schätze der „Aljamiado-Literatur“ ausbreitet, die in serbokroatischer Sprache verfaßt, aber arabisch geschrieben waren. Er unterrichtet uns über die in Bosnien entstandenen, arabischen und persischen Werke, die nur zum geringen Teil ediert und nun – dank bosnisch-serbischem Artilleriefeuer – für immer verloren sind. Vor uns entsteht das Bild einer zwar peripheren, aber mit den großen Strömungen der türkisch-arabischen Kultur und Geistesgeschichte fest verbundenen Zivilisation und eines Islams, der traditionell war, in der Beachtung der religiösen Gebote eher lax, mit abgeschliffenen Kanten gegenüber den rivalisierenden christlichen Bekenntnissen. Ganz bestimmt keine Basis für das serbische, teils auch kroatische Propagandaklischee vom zähnefletschenden, fundamentalistischen bosnischen Islam.

Bewegt sich Malcolm bei seiner Darstellung muslimischer Kultur eher in den höheren Gefilden, so bewegt sich das Buch von Gerhard Neweklowski, „Die bosnisch-herzegowinischen Muslime“, in den „Niederungen“ der Alltagskultur. Neweklowski, Slawist, Orientalist und alter Liebhaber der Völker der Region, hatte den glänzenden Einfall, verschiedene Generationen in Österreich lebender, bosnisch-herzegowinischer Flüchtlinge und Gastarbeiter zum muslimischen Brauchtum in ihrer alten Heimat zu befragen. Die thematisch geordneten Antworten bilden den zweiten Teil seines Werkes, der erste Teil faßt in lockerer, zuweilen amüsanter Manier die Grundtendenzen der Geschichte Bosniens zusammen.

Was die Flüchtlinge dem Interviewer antworteten, aktualisiert Malcolms Analyse. Der bosnische Islam war, Folge des langen Zusammenlebens der Religionen, der Industrialisierung und der offiziellen, atheistischen Kulturpolitik, ziemlich verweltlicht, eher eine Ansammlung von Bräuchen und Praktiken als eine kohärente Lebensweise. Wo Zwetschgen wuchsen, wie in der Posavina, brauten und tranken auch die Muslime Schnaps. Mischehen gab es erst in den größeren Städten, später gelegentlich auch auf den Dörfern. Schon in der türkischen Zeit sind trotz elterlicher Ehevermittlung Liebesheiraten möglich gewesen, und die Kunst der Werbung war selbst Bestandteil traditioneller Volkskultur. Vornamen blieben überwiegend islamisch, ergänzt durch islamisierte Phantasieprodukte.

Auch die Beschneidung blieb bis in die jüngste Zeit obligatorisch, was den kommunistischen Vätern Kopfzerbrechen verursachte: „In der Praxis spielte sich das oft so ab, daß der kommunistische Parteifunktionär seine Gattin beauftragte, die Beschneidung während seiner Abwesenheit in einer dienstlichen Angelegenheit durchführen zu lassen und ihn so nach seiner Rückkehr vor vollendete Tatsachen zu stellen, so daß man ihn nicht belangen konnte.“

In der Alltagssprache, in der Neubenennung von Ortsnamen und Straßen, überall prägt sich jetzt in Bosnien die Trennung der drei Völker ein. Neweklowski registriert es mit tiefer Melancholie. Er kann, wie Noel Malcolm auch, der De-facto-Teilung des Landes nichts abgewinnen, was nach dauerhaftem Frieden aussähe. Das wissen auch unsere Politiker. Aber denen ist es egal.

Noel Malcolm: „Geschichte Bosniens“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1996, 382 S., 48 DM

Gerhard Neweklowski: „Die bosnisch-herzegowinischen Muslime. Geschichte, Bräuche, Alltagskultur“. Wieser Verlag, Klagenfurt 1996, 210 S., 60 DM