Mit Clara Schumann ins Gewandhaus Von Martin Sonneborn

Wir nehmen den Intercity „Clara Schumann“ 10.28 Uhr ab Berlin- Hauptbahnhof. Stunden später laufen wir im Hauptbahnhof Leipzig ein. Ein Besuch im „Treff am Bayerischen Platz“ formt die Überzeugung, daß die historischen Montagsdemonstrationen eine ganz normale Reaktion auf die hier erhältlichen „Makkaroni Bolognese“, respektive „Pizza 4 Jahreszeiten“ gewesen sind.

Abends besuchen wir mit vielen anderen das Gewandhaus. Von den Ricola-Kräuterbonbons, die umsonst an der Garderobe ausliegen, nehme ich vorsichtshalber 80, Herr Hanf, ein kränkelnder Typ mit Schatten auf der Lunge, ca. 150. Wir sitzen ganz außen. Permanent kommen noch Leute. Aufstehen – setzen, aufstehen – Bauch einziehen – setzen. Das ist ja Zirkeltraining statt Kultur!

Die Musikanten laufen ein, ziemlich wenige, höchstens so 20, 25. Etwas später der Dirigent. Marek Gorenstein. Dann der Violinsolist Thomas Timm. Etwa 21 Jahre erst, spielt aber bereits wie ein Alter. Herr Hanf fragt, was ich mit 20 gemacht habe. Grübele das ganze Konzert für Violine und Orchester A-Dur KV 219 von Wolfgang A. Mozart (1756–1791) hindurch. Ich erinnere mich nicht genau. Die Musik ist gut. Nach dem ersten Satz husten die Leute, die sich vorhin geschämt haben, bei den Kräuterbonbons richtig zuzugreifen, lauthals herum. Wie auf Kommando. Herr Hanf und ich hüsteln verschämt mit. Pause.

Wir verwerfen den Gedanken, die zweite Halbzeit drüben in der Moritz-Bastei zu verbringen, wo das Bier sehr lecker schmeckt. Schließlich kommt gleich Mahlers Neunte. Herr Hanf meint, daß Mahler klasse sei. Mit viel Orchester – bestimmt 40, 50 Mann – und bombastischen Stellen. Die Musikanten sind super! Und eine junge Violinistin ganz vorne ist nett anzusehen. An den ganz großen Violinen, die immer hinten rechts stehen, sitzen merkwürdigerweise Erich Böhme (mitte-rechts) und Rolf Rüßmann (links außen). Ich dachte immer, Rüßmann habe inzwischen eine florierende Lotto- Toto-Annahmestelle. Auch Herr Hanf kann sich das nicht erklären.

Aber mit Mahler, der nach Hanfs Angaben um 1900 lebte (Relativitätstheorie, Atomlehre, Abstraktes in der Malerei), hat er recht: ein klasse Mann! Völlig zu Recht spricht das Programm von Musik höchster Vergeistigung. Der Dirigent allerdings patzt. Als gerade die bestürzendste Todesahnung Gewißheit wird, in der ja auch alles Irdisch-Verträumte gipfelt, während der Sehnsucht nach den tiefsten Tiefen, fällt ihm der Dirigentenstab nach unten (!) weg. Und sein Notenbuch. Das gibt ihm die nette Büchs von der Violine wieder, und er blättert mit links wild darin rum, während er mit rechts weiterdirigiert. Seinen Queue kriegt er nach dem Satz wieder, während alle husten.

Für das Finale hat uns das Programmheft nicht zuviel versprochen: Schmerzvolle Trauer und Sehnsucht durchströmen die Musik. Fast eine kleine Ewigkeit lang. Herr Hanf und ich sind ergriffen. Es ist Mahlers Schwanengesang. Voll Adagio und komplizierter Satzstruktur. Das erinnert uns an Bruckner. Hinterher sitzen wir noch eine weitere kleine Ewigkeit in der Moritz-Bastei. Und der Zug, den wir am nächsten Tag mit baßbrummendem Schädel besteigen, ist wieder – denken Sie nur! – unser alter IC „Clara Schumann“.