■ Christopher beriet in Prag über die Nato-Osterweiterung
: Ratlos auf dem Hradschin

Von Anfang an stand die Debatte über die Osterweiterung der Nato vor einem Dilemma, das der amerikanische Außenminister Warren Christopher im Januar 1994 folgendermaßen umrissen hat: „Wenn die Allianz sich nicht rasch nach Osten erweitert, könnte die Nato genau jene Instabilität aussäen, die sie zu verhindern sucht. Die schnelle Osterweiterung aber könnte ein neoimperialistisches Rußland zu einer Selffulfilling prophecy machen.“ Ein Zielkonflikt, der sich mit dem Beschluß der russischen Duma, die Auflösung der Sowjetunion für nichtig zu erklären, nur noch verschärft hat.

Paradoxerweise sind es die Staaten, die bislang erst in zweiter Linie für den Nato-Beitritt in Frage kamen (Estland, Lettland, Litauen), für die eine rasche Nato-Integration ein wirklicher Sicherheitsgewinn wäre, während die ostmitteleuropäischen Staaten der ersten Aufnahmelinie (Polen, Ungarn, Tschechien) auch nach den jüngsten Erklärungen der russischen Kommunisten/Nationalisten keiner unmittelbaren Gefahr ausgesetzt sind. Christopher konnte den versammelten Aufnahmekandidaten in Prag aber kein mit einem Zeitplan versehenes Konzept der Integration vorlegen. Dies aus einem einfachen Grund: Er hat keins.

Zeitgleich mit Christopher suchte der Nato-Generalsekretär Solana der russischen Regierung ein opulentes Bild der Zusammenarbeit zu malen und berief sich ausgerechnet auf die Teilnahme eines russischen Kontingents an den Operationen der Ifor in Bosnien. In den Kreisen der Nato-Analytiker heißt es hinter vorgehaltener Hand, die Russen hätten sich mit der Osterweiterung schon abgefunden. Mag sein. Aber sichere Folge der Erweiterung zum jetzigen Zeitpunkt wäre, daß der Start-II-Vertrag von Rußland nicht ratifiziert wird, der Druck auf die Ukraine zunimmt und daß im Zeichen der „beschleunigten Integration“ die GUS-Staaten politisch wie ökonomisch ihren Manövrierspielraum Richtung Westen einbüßen. Und welches Regime würde in Rußland nach der Osterweiterung triumphieren?

Oder besteht die Lösung darin, den osteuropäischen Aufnahmekandidaten eine Art abgestufter Mitgliedschaft vorzuschlagen, ohne Stationierung von Atomwaffen und Truppen der Nato-Verbündeten? Mit verminderter Verpflichtung, bei einem Angriff auf einen der Vertragspartner militärisch einzustehen? Dann wäre die Mitgliedschaft ihres Kerns, der gegenseitigen Sicherheitsgarantie, beraubt. Ratlosigkeit auf dem Hradschin. Christian Semler