Zeitung für strahlende Sonderangelegenheiten

■ Der Journalist Alexander Gromienko kämpft mit der Wochenzeitung „Russisches Tschernobyl“ gegen Verdrängung und die Ignoranz der Behörden

Brjansk (taz) – In Brjansk schlagen die Uhren noch etwas anders. Wenn man vor dem Lenin- Denkmal im Stadtteil Sowietski rechts um die Ecke biegt, läuft man direkt auf den zentralen Karl- Marx-Platz der 500.000-Einwohner-Stadt zu. Hier, 350 Kilometer südwestlich von Moskau, ist die Vergangenheit allgegenwärtig.

Hausnummer 2 am Karl-Marx- Platz hat bis 1991 die Jugendorganisation der regionalen KPdSU beherbergt. Heute ist in dem monumentalen Gebäude ein Außenposten des russischen Ministeriums für Sonderangelegenheiten untergebracht. Sonderangelegenheiten, das bedeutet in Brjansk die atomare Verseuchung nach der Tschernobyl-Katastrophe vor zehn Jahren.

Im Erdgeschoß des Klotzes sucht Alexander Gromienko, ein großer, drahtiger Mann, auf seinem überfüllten Schreibtisch mit riesigen Händen nach etwas Brauchbarem. Häufig genug wird er fündig. Gromienkos Wochenzeitung Russisches Tschernobyl hat als erste über die Folgen des Super-GAUs in der Brjansker Region geschrieben.

Chefredakteur Gromienko ist gleichzeitig Hirn und Herz des Blattes. Der Ukrainer, eigentlich Naturwissenschaftler und examinierter Philosoph, hat 1967 als typographischer Hilfsarbeiter bei der regionalen Tageszeitung Brjansker Arbeiter begonnen. Es folgten Korrespondentenjahre, Expeditionen zum Nordpol, Jahre bei den Erdölarbeitern und mit Eisenbahnern in Sibirien.

Seit der Katastrophe im 250 Kilometer entfernten Tschernobyl im April 1986 beschäftigte sich Gromienko praktisch nur noch damit. Er bereiste verstrahlte Regionen und organisierte Hilfe für betroffene Menschen. Und 1991 verließ „der Professor“, wie ihn die Kollegen wegen seines unerschöpflichen Wissens nennen, den Brjansker Arbeiter, um eine Zeitung zu gründen, die sich ausschließlich mit Tschernobyl und den Folgen beschäftigen sollte.

„Die Zeit war damals reif dafür“, sagt Gromienko und erzählt dann, wie er in Moskau im Weißen Haus aufkreuzte, um sich das Projekt genehmigen zu lassen. „Der zuständige Sachbearbeiter wollte erst nicht. Da habe ich ihm gesagt, ich lege mich so lange auf seinen Tisch, bis er unterschreibt.“ Nach drei Stunden war der Beamte mürbe. Eine typische Geschichte der ersten Jelzin-Jahre. „Es gab einen unheimlichen Demokratisierungsschub. Alle wollten unbedingt demokratisch sein, ohne richtig zu wissen, was das ist.“

Das Geld für die erste Ausgabe von Russisches Tschernobyl im März 1992 kam von sibirischen Erdölarbeitern. Inhalt der Zeitung, die ihre Auflage schnell von 2.000 auf 22.000 Exemplare steigerte, waren neben Berichten über die Katastrophe und ihre Folgen auch bald Informationen über andere verstrahlte Regionen in Rußland und praktische Hilfe für die Betroffenen. Außerdem leistete Gromienko mit Kollegen Starthilfe bei der Gründung der „Tschernobyl-Union“, in der sich Strahlenopfer organisiert haben.

Geschichten gibt es auch im Jahre fünf nach der Gründung genug: Die inzwischen erkämpften Entschädigungen für die Strahlenopfer fließen auch zehn jahre nach dem Super-GAU nur widerwillig und unpünktlich. Die russische Bürokratie hat sich ihre Spitzenstellung längst zurückerkämpft. Und die Versorgungsprobleme sind inzwischen wieder so gravierend, daß die Menschen in der Region verstrahlte Lebensmittel essen müssen. Selbst daß die Regierung zum Gedenken an Tschernobyl jetzt 40 Milliarden Rubel aufwenden will, ist für Gromienko kein gutes Zeichen. „Ich fürchte, dieses zehnjährige Jubiläum wird dazu mißbraucht, das Thema danach endgültig abzuhaken.“

Geld kommt heute vom Paritätischen Wohlfahrtsverband in Hameln, der sich seit 1990 in Brjansk engagiert und für den Gromienko aus der Region berichtet. Wenn das Geld nicht reicht für das Papier der nächsten Ausgaben helfen Spenden weiter und das private Geld der Redakteure. Bei so viel Einsatz geht die vielzitierte journalistische Objektivität schon mal über Bord. Doch Angriffe der lokalen Kommunisten fechten den „Professor“ nicht an. Er will sein Lebenswerk notfalls „per Hand vervielfältigen“. Tobias Kaufmann