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„Gefragt ist soziale Kompetenz“

■ Interview mit Herta Däubler-Gmelin zur Ausbildung der Juristen, dem Freischuß und einer Reform des Jurastudiums

Herta Däubler-Gmelin (52) ist Rechtsanwältin, Stellvertretende SPD-Vorsitzende und Justitiarin der SPD-Bundestagsfraktion. Sie studierte, neben anderen Fächern, Jura in Tübingen und Berlin. Seit Februar ist sie Honorarprofessorin für Politische Wissenschaften an der Freien Universität Berlin.

taz: Ist der Freischuß wirklich die große Reform der Juristenausbildung, als die er gefeiert wird?

Däubler-Gmelin: Reform ist er nur dann, wenn dieser Begriff in einem heute zwar üblichen, inhaltlich aber falschen Sinn benutzt wird. Der Freischuß reformiert ja das Jurastudium nicht, sondern zeigt nur, daß die heute prüfungsrelevanten handwerklichen Fähigkeiten und Grundkenntnisse in sechs Semestern gelernt werden können. Gute Juristinnen und Juristen brauchen jedoch mehr: wissenschaftliches Denken und soziale Kompetenz.

Was wäre denn eine wirkliche Reform? Oder ist das Jurastudium gar nicht reformbedürftig?

Doch, das Jurastudium muß gründlich verändert werden, der Fächerkatalog ebenso wie die Didaktik und die Zuordnung der Studienabschnitte. Klar ist, daß so etwas Zeit braucht. Zunächst muß jedoch Konsens darüber bestehen, was wir von einer modernen, rechtsstaatlichen Justiz erwarten und wie sie organisiert sein soll. Ein Beispiel: Wer in einem dreistufigen System die Eingangsgerichte zum Schwerpunkt macht, muß dort die erfahrensten Richterinnen und Richter haben, die über breite Kenntnisse und soziale Kompetenz verfügen.

Warum ist soziale Kompetenz für Juristen so wichtig?

Anwältinnen und Anwälte, ebenso Richterinnen und Richter haben es mit Menschen und ihren Konflikten zu tun. Nicht nur mit Paragraphen und Rechtsproblemen. Wer nie im Arbeitsleben gestanden hat, kennt die Angst um den Arbeitsplatz in einem Kündigungsschutzprozeß nicht. Woher sollte jemand, der von der Schulbank kommt und nach dem Studium gleich als Richter angefangen hat, den Wert und Nutzen von Mitbestimmung oder die Sorgen einer alleinerziehenden Mutter kennen, die von Sozialhilfe leben muß?

...sollten die rechtlichen Bestimmungen nicht vom Gesetzgeber so festgelegt sein, daß die Bedeutung klar wird?

Doch natürlich. Aber richterliche Tätigkeit heißt Anwendung und Entscheidung im Einzelfall. Der muß mit Erfahrung und Fachkenntnissen beurteilt werden können; dazu reicht die sogenannte herrschende Meinung juristischer Lehrbücher oder des Bundesgerichtshofs nicht aus. Richtertätigkeit bringt höchstens 20 Prozent Rechtsprobleme. Der ganze wichtige übrige Teil besteht aus der Fähigkeit zur Beurteilung von Zeugen, Beurteilung behaupteter Fakten oder etwa der Abläufe von Konflikten. Gute Rechtskenntnisse und die Beherrschung der juristischen Methoden sind sehr wichtig, reichen jedoch nicht aus. Deshalb muß das Jurastudium reformiert werden, der Freischuß greift das noch nicht auf. Ich halte übrigens viel davon, vor das Jurastudium eine andere berufliche Tätigkeit zu setzen und die Referendarausbildung nach der ersten Prüfung zur spezifischen Berufsausbildung für die juristischen Berufe, also etwa für Anwälte oder Richter jeweils gesondert, zu nutzen. Die Möglichkeit, später von Bereich zu Bereich zu wechseln, kann damit durchaus verbunden werden.

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In den momentanen Reformdiskussionen wird aber nicht über soziale Kompetenz, sondern über Studienzeitverkürzung diskutiert. Ist dies ein erstrebenswertes Ziel?

Verkürzung ohne inhaltliche Veränderung wird häufig zu Qualitätseinbußen oder zur Verengung von Kenntnissen eben auf die prüfungsrelevanten Fächer führen. Das reicht nicht. Auch wer heute studiert, muß irgendwann im Studium oder im Referendariat über die Grenzen der Juristerei hinaus in andere Wissenschaftsbereiche hineinschauen können.

Die ehemalige Justizministerin Bayerns, die den Freischuß 1990 eingeführt hat, Frau Berghofer- Weichner, meint, daß dazu sechs Semester reichen. Sie habe sich nach dieser Zeit zum Examen gemeldet, betont sie gern. Wieviel Zeit haben Sie sich genommen?

Während meiner Studienzeit war das Jurastudium weniger verschult, für mich war das besser. Außerdem habe ich meiner Neugier breiten Raum gelassen, zunächst Politikwissenschaften studiert und in andere interessante Fächer wie Geschichte, Soziologie und Sprachen hineingerochen. Für die Jura- Scheine und die Examensvorbereitung habe ich auch nicht mehr als sechs Semester gebraucht.

Wirken momentane Bestrebungen nicht jeder Neugierde entgegen? Kann es zukünftig überhaupt noch genug Juristen geben, die sich auch in einzelnen Spezialgebieten auskennen?

Heute führt die Ausbildung zum sogenannten Einheitsjuristen, dessen Ausbildung zum Richter, Anwalt, Syndikus eines Unternehmens, BGH-Richter oder Juraprofessor gleichzeitig ausreicht und alle Fachgebiete abdeckt. In der Praxis ist das jedoch längst zur Fiktion geworden. Ich denke, daß mehr fachliche Schwerpunkte gesetzt werden müssen – im Beruf und auch im Studium. Das muß vor Beginn der Ausbildungsreform klargestellt sein.

Stellen Sie damit den Einheitsjuristen in Frage? Der Juristen- Fakultätentag hat im letzten Sommer deutlich betont, daß er daran festhalten wolle.

Als heilige Kuh muß er in Frage gestellt werden. Das hindert weder die gemeinsame Ausbildung noch einen – jedenfalls im Grundstudium – gemeinsamen Fächerkanon, noch die Öffnung der juristischen Berufe aller Bereiche für sogenannte Quereinsteiger, wenn sie gut sind. Wissenschaftliches Denken, gute juristische Ausbildung und soziale Kompetenz – das ist das Wichtigste, was im Studium vermittelt werden muß. Fachliche Schwerpunkte sind unvermeidbar.

Gehen die momentanen Reformbestrebungen, etwa der Freischuß, nicht in die genau entgegengesetzte Richtung?

Die Freischuß-Regelung berührt solche Fragen nicht. Das ist ihre Schwäche. Sie bringt auch Vorteile, baut Angst vor dem Examen ab. Mancher wagt das Examen, weil er es ja nochmals machen kann, wenn er es verhaut oder die Note nicht gut genug ist. Das hilft im übrigen auch bei der Beurteilung und bei der Überwindung der eigenen Schwächen.

Aber entspricht das wirklich der Realität? Entlassen die Universitäten durch den Freischuß nicht verstärkt ausschließlich prüfungsrelevant ausgebildete Juristen auf den Arbeitsmarkt?

Bisher gibt es keine zuverlässigen Untersuchungen über die Auswirkungen der Freischuß-Regelung auf die Kenntnisse der jungen Juristinnen und Juristen. Auch keinen stichhaltigen Vergleich mit herkömmlichen Examina und der dort erzielten Qualität und Breite der Kenntnisse. Solche Untersuchungen muß man sicher abwarten. – Ich will noch etwas zur notwendigen Änderung der Wissensvermittlung anfügen, was mir beim Vergleich etwa zwischen guten amerikanischen Law Schools und deutschen Fakultäten aufgefallen ist: Dort wird erheblich mehr verlangt – von Dozenten und Studierenden. Mehr an Konzentration, mehr an Arbeit, mehr individuelle Betreuung der Studierenden, mehr Zeit für die Lehre. Das ist wichtig auch für uns hier.

Mehr Konzentration und Arbeit? Jurastudierende klagen doch jetzt schon, sie müßten die ganze Zeit pauken.

Hier gibt's natürlich auch Unterschiede, bei den Anforderungen ebenso wie bei der Betreuung durch Professoren. Außerdem müssen viel zu viele Studierende arbeiten, um leben und studieren zu können. Das raubt natürlich zuviel Zeit für das Studium. Vielfach fehlen auch die nötigen Bücher und andere Lehrmittel in den Fachbereichen – das alles muß geändert werden, wenn Studienreform ernsthaft angesagt ist. Interview: Christian Arns

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