Die Verlockung des Bösen

Das Nazigetöse im polnischen Malbork irritiert die Einwohner. Die Marienburg im Nordosten Polens ist der Schauplatz des neuen Films von Volker Schlöndorff, „Der Unhold“. Aber Komparsen und Touristen freuen sich  ■ Von Katarzyna Bijas

„Ruhe!“ Die Stimme des Produktionsassistenten donnert gegen das rote Gemäuer. Im Hof der Marienburg wellt sich die Hakenkreuzfahne im Wind. Ab sofort herrscht Ordnung, nein: Zucht. Ein Pfiff, und die Jungs hüpfen. Ein Pfiff, und sie werfen sich auf den Boden. Ein Pfiff, und weiter geht's, im Gleichschritt, marsch: „Jungmannen“ in knielangen Socken auf dünnen Waden, ihre von der Sonne gebleichten Haare schweißverklebt quer über die Stirn gezogen. Schwarze Stiefel stampfen auf das alte Pflaster.

Damals waren sie Elite, ihre Körper und Herzen trainiert für die große Sache. Für Adolf Hitler verkörperten sie das Ideal des arischen Jünglings: aufwendig ausgesucht, „zäh wie Leder, flink wie die Windhunde, hart wie Kruppstahl“. Volker Schlöndorff (56) fand die „Reinrassigen“ für seinen neuen Film in den Schulen der polnischen Stadt Malbork (Marienburg). Einige hundert Knaben im Alter von 12 bis 16 Jahren sind in diesen Augustwochen die örtlichen Stars im „Unhold“. Auf die „Gymnastik“ von damals wurden sie vor Drehbeginn in einem zweiwöchigen Trainingslager vorbereitet.

„Woran hast du gedacht, Bartek, als du dich eben vor dem SS- Offizier auf die Steine werfen mußtest?“ fragt eine Touristin aus Warschau in einer Pause im Torbogen einen der Jungen. „An das Geld“, sagt Bartek ohne zu zögern. Seine Freunde und Mitschüler lachen. „Was ist?“ empört sich Bartek, „sie zahlen uns 40 Zloty pro Tag, und die Aufnahmen gehen noch fast zwei Wochen. Da kommt doch einiges zusammen, oder?“ – „Und der Krieg?“ Bartek: „Mhm, den Krieg, wissen Sie, den gibt's hier nicht. Hier ist die Burg, der Wald, der Sport: ein Abenteuer. Den Jungs von damals hat das sicher auch gefallen. Gestern drehten wir eine Nachtszene mit Fackeln – echt klasse.“ Nur wenn sie die Hand heben und „Sieg Heil!“ schreien sollen, sagt Bartek, fühlten sie sich „irgendwie seltsam“. Und wer weiß, was da sonst noch kommt, fragt sich der kleine Tomek. „Angeblich werden wir am Ende alle von russischen Panzern überrollt.“

Seit Ende Juli weilt das internationale Filmteam auf der berühmten Burg, die der Deutsche Orden im Jahre 1309 zu seinem Hauptsitz machte. Etwa 80 Leute: Schauspieler, Kameraleute, Tonmeister, Übersetzer und Regie arbeiten in der nordpolnischen Kleinstadt nahe Danzig an der Verfilmung von Michel Tourniers Roman „Der Erlkönig“ (1972). Produziert wird der „Unhold“ von Schlöndorffs Studio Babelsberg, den Renn Productions aus Paris, den Recorded Pictures aus London und der Warschauer Heritage- Film. Erstmals präsentiert wird der Streifen im Mai 96 bei den Filmfestspielen in Cannes, in die deutschen Kinos kommt er in September. Darsteller in dem 18-Millionen-Dollar-Projekt sind John Malkovich, Marianne Sägebrecht, Armin Müller-Stahl, Gottfried John u.v.m. Zwar ist die Originalsprache Englisch, aber auf dem Set in Malbork verflechten sich die Sprachen mehr als die Kabel, die sich quer über den Innenhof schlängeln. Kameramann Bruno de Keyser spricht Französisch, das Team vom Studio Babelsberg eher Deutsch, und auch die polnische Gruppe bevorzugt die eigene Sprache. Doch jeder hier kennt seine Aufgabe, die Verständigung läuft glatt, auch ohne viel Worte.

Wovon genau der Film von Volker Schlöndorff erzählt, darüber ist man sich hier am historischen Ort zu Beginn der Dreharbeiten nicht ganz einig. Über Faschistenkinder, vermutet das polnische „Jungvolk“. Über einen französischen Automechaniker, den der Krieg nach Ostpreußen verschlagen hat, meint der amerikanische Hauptdarsteller John Malkovich lapidar. Über die verführerische Schönheit des Bösen, die Faszination des Faschismus, erklärt der deutsche Regisseur.

„Ich weiß es“, sagt Michal, „ich weiß, wovon dieser Film handelt. Leider.“ Der 14jährige wartet mit einem Dutzend Freunde auf seinen Einsatz an der Ziehbrücke. Michal hat gestern das Buch gelesen. „Hätte ich das früher getan, würde ich jetzt nicht mitspielen“, empört sich der kleine Komparse altklug. „Der Film handelt gar nicht von uns, sondern von einem Werwolf, einem verrückten Schwulen oder so. Ein Horror, sage ich ihnen.“

Volker Schlöndorff lacht, als ihm Michals Enttäuschung übersetzt wird. Er bürstet dem Jungen seinen blonden Haarschopf gegen den Strich. „Die Jungs sind vielleicht noch ein bißchen zu jung, um die Aussage des Films zu verstehen.“ Doch teilweise stimme es schon, daß in diesem Film etwas vom Horror zu spüren sei. „Schon der Titel, im Englischen ,The Ogre‘, im Deutschen ,Der Unhold‘, klingt etwas unheimlich.“

Etwas unheimlich auch sind den Menschen im Ort hier am Westrand Masurens die „Filmstars“. Die Leute reagierten zum Teil irritiert auf ihre Uniformen, wenn sie während der Drehpausen in Grüppchen durch die Stadt gingen, erzählen die „Jungmänner“. „Einer hat mich als ,Faschist‘ beschimpft“, beschwert sich Arek. „Und mir hat einer den Adler hier abgerissen“, schmollt der zwölfjährige Tomek und zeigt traurig auf seine schwarze Mütze. „Ja, aber der war doch besoffen“, versucht Arek den „Täter“ in Schutz zu nehmen.

Auch die alte Frau auf der Holzbank am Ufer des Nogat möchte sich lieber nicht mit der Geschichte konfrontieren. „Ich mag mir das nicht mal im Fernsehen anschauen“, sagt sie und schüttelt den Kopf über das Geschehen auf der Burg gegenüber. Sie ballt die Hand zu einer Faust und klopft sich auf den Ausschnitt ihres Blümchenkleides. „Sogar nach all den Jahren kann ich mich noch genau daran erinnern, wie sie hier im Wald die jüdischen Kinder in ein Loch stießen und auf sie schossen. Noch am nächsten Tag bewegte sich die Erde...“

Touristen und Budenbesitzer dagegen freut der Rummel, den das Schlöndorff-Team jetzt für einige Zeit nach Malbork gebracht hat. Auf der Lindenallee entlang des Burggrabens flanieren die Urlauber, Kinder toben wild herum, und einige Rentner betrachten von ihren Bänken die Geschäftigkeit auf dem Marktplatz. Vor der Burg wird Kasse gemacht: Bunte T- Shirts mit Kreuzritter-Aufdruck finden ebenso reißenden Absatz wie aufblasbare Dinos Marke Jurassic Park. Russische Uhren glänzen in der Sonne. Ein Stand bietet Historisches: „Mein Kampf“. Wessen? Weiß doch jeder; „Männer machen Europa“ – über die Freundschaft Hitlers mit Mussolini; „Der Sieg über Polen“, herausgegeben vom Oberkommando der Wehrmacht im September 1939. Herr Boleslaw kann das Deutsche nicht lesen, geschweige denn die altdeutsche Schrift. Aber er sammelt und verkauft solche Bücher. „Irgendwas muß man doch machen, sonst wird man ja verrückt. Und wer weiß, vielleicht kann ich mir durch diesen Film meine Rente ein wenig aufbessern.“

Die Marienburg, massiv und rot, zeigt sich der ganzen künstlichen Aufregung gegenüber ungerührt. Sie hat Erfahrung mit dem Filmgeschäft. „Die ,Kreuzritter‘ und einen Teil von ,Schindlers Liste‘ haben sie hier schon gedreht“, sagt Alina Paciorkowska. Die zierliche Frau ist extra wegen Schlöndorffs „Unhold“ nach Malbork gezogen, sie arbeitet als Statistin: „Ich habe mich entschieden, ein Waschweib zu spielen.“ Alina Paciorkowska steht, beide Hände in die Hüften gestemmt, vor dem Brunnen im Hof und sieht sich nach einem schattigen Fleckchen um. Sie denke nicht ans Geld, sagt sie, für sie sei das alles hier so faszinierend, „fast wie in einem Märchen, das man sich von ganz nah angucken kann“.

Plötzlich errötet die 50jährige leicht, sie schaut verlegen runter auf ihre Schuhe. „Ich habe mich mit dem Herrn Malkovich fotografieren lassen, sagt sie verstohlenen Blickes, „denn er spielt eine Szene mit mir. Ich bin einfach auf ihn zugegangen und habe ihn auf polnisch darum gebeten: ,Chce fotografie‘. Darauf sagt der: ,Nie ma problemu‘, kein Problem. Er ist ein sympathischer Typ, so zahm irgendwie, ein echtes Bärchen. Auch wenn die mir nichts zahlen würden, ich käme trotzdem.“

Eine nette Anekdote, nur spricht der Star aus New York kein Wort polnisch. „Polen hat mich bis heute eigentlich kaum interessiert“, räumt er ein. In Malbork sei er jetzt, „um mit Volker diesen interessanten Stoff zu drehen“. Malkovich, der Dämon, das Bärchen, setzt sich zum Mittagessen an einen der langen Holztische, wo seine Frau und die beiden Kinder schon warten. Der Kontakt zu den Leuten in Malbork, auch zu den polnischen Statisten, sei eher spärlich, sagt er. „Vielleicht ergibt sich das noch im Laufe der Aufnahmen.“ Nein, er kenne keinen einzigen polnischen Schauspieler, und nach dem Namen eines Regisseurs befragt, antwortet er zögernd: „Kieslowski?“

John Malkovich, das amerikanische Zugpferd, das den „Unhold“ auch in die US-Kinos bringen soll, ist Abel, ein doppeldeutiger Charakter, der in den Wäldern Masurens das Abenteuerland findet, das ihm in seiner Kindheit versagt blieb. Auf der uralten Festung Kaltenborn kümmert sich der Franzose Abel hingebungsvoll um die „arischen Jungmannen“, die gegen Kriegsende als Kanonenfutter an der Front verheizt werden. Von seinen Streifzügen über die Dörfer bringt er weitere Knaben für die Eliteschule mit; Abel, der Jungs liebt, ist der Unhold, der sie für die Festung einfängt.

16 Uhr 34. Auf diesen Augenblick hat der Regisseur gewartet. Im großen Speisesaal des Ordens haben sie sich versammelt: Abel, SS-Offiziere und die Jungmannen. Aber der Moment gehört dem Licht. Schlöndorff schaut noch mal nach oben auf die gothischen Fenster, auf die symmetrischen Rippen am Gewölbe. Die warmen, weichen Strahlen der Nachmittagssonne fließen quer durch den Raum. Sie wabern auf den Säulen, rutschen auf die weißen Tischdecken, wippen in den Tellern, bis sie von den braunen Hemden der Jünglinge absorbiert werden. Um Ruhe braucht nun keiner zu bitten.

„Vielleicht spiele ich mit dem Feuer, indem ich das Böse in schönen Bildern zeige“, deutet Volker Schlöndorff die hypnotisierende Wirkung der Nazizeremonie. „Aber das Böse ist immer verlockend, es verführt immer. Ich hoffe trotzdem, daß sich der Zuschauer mit dem Kriegsgefangenen identifizieren wird.“

Entspannt schaut der deutsche Regisseur hoch zur Burg und greift zu seinem Bier; an Bord eines schwimmenden Cafés auf dem Nogat-Fluß trifft sich am Ende des Drehtages die Crew. Für Schlöndorff sind Filmarbeiten in Polen nichts Neues. Allerdings waren die Bedingungen, unter denen er 1978/79 in Danzig die „Blechtrommel“ realisierte, weitaus schwieriger. „Sehr mühsam war das damals, auf manche Genehmigung haben wir Jahre gewartet. Und während des Drehs wurden wir auf Schritt und Tritt überwacht.“

Heute freut sich Polen über jede Zusammenarbeit: Unberührte Landschaften und billige Statisten machen das Land attraktiv für Filmschaffende aus ganz Europa. Auch vor dem Bahnhof von Malbork leuchten jedem die Vorteile der politischen Öffnung ein: „Einen Haufen Kohle kostet angeblich diese ganze Nummer, deswegen ist es gut, daß ein Teil davon hier in Marienburg bleibt“, lächelt verschmitzt ein 40jähriger und zeigt sein lückenhaftes Gebiß. „Die aus dem Süden haben am meisten von ,Schindlers Liste‘ profitiert, jetzt sind wir dran. Gut auch, daß sie jetzt so viele Statisten brauchen, die Kinder verdienen sich dabei ein bißchen. Ich warte nun darauf, daß sie in Polen mal einen Film über Taxifahrer drehen. Dann habe ich endlich auch was davon.“