Der Abschied einer Großen

■ Operndiva Leonie Rysanek sagte mit Richard Strauss adieu

Nein, sie habe keine Angst vor der Zeit nach ihrer Opernkarriere. Mit der Rolle der Klytämnestra verabschiedete sich Leonie Rysanek in einer grandiosen Elektra-Vorstellung vom Hamburger Publikum.

Eigentlich wollte sie keine „Abschiedstournee“, doch nach dem frenetischen Jubel beim Abschied von der New Yorker Met, wo sie 37 Jahre sang, konnten Berlin, Salzburg und eben auch Hamburg sie nicht einfach so ziehen lassen.

Fast 70 ist sie mittlerweile, und man darf das sagen, denn was sie auf der Bühne zeigte, macht ihr so schnell keine nach, egal welchen Alters. Mit umwerfender Bühnenpräsenz faszinierte sie am vergangenen Sonnabend das Publikum und man konnte überrascht feststellen, daß selbst die alte Everding-Inszenierung noch zu fesseln vermag, wenn die richtige Besetzung auf der Bühne steht. Bei der Rysanek saß jede Geste, jeder Ton. Sie spielte die Rolle als vielschichtige, schillernde Figur. Wie sie zum zusammengelegten Purpur-Teppich flüchtete, der ihr doch eigentlich ausgerollt sein sollte, zeigte sie Hoffnungen und Sehnsüchte der dem Kind verhaßten Mutter. Nach kurzer Anlaufzeit fand sie zu beeindruckend leuchtenden Höhen.

Darstellerisch von der ersten Minute an unschlagbar, schwankte sie, taumelte und wälzte sich auf dem Boden. Da gab es keine leere Bewegung, keine aufgesetzte Mimik. Jede Facette der Klytämnestra wußte die Rysanek glaubhaft umzusetzen, eine Gabe, die man ihren Kolleginnen nur allzu gern gewünscht hätte. Janis Martin in der Titelrolle meisterte ihre Aufgabe beachtlich, und Inga Nielsen als ihre Schwester Chrysothemis hatte wunderschöne Höhen, aber sie konnten doch nur stereotype Rollenportraits zeigen und hatten der von Ausdruck durchdrungenen Präsenz der Rysanek nur selten Ebenbürtiges entgegenzusetzen. Als Klytämnestra nach Licht schrie, um ihre Tochter vor versammelter Dienerschaft zu verlachen, mußte man leider vermuten, daß es eine auch nur annähernd so vollkommene, faszinierend gespielte Darstellung in nächster Zeit nicht geben wird.

Man kann nur hoffen, daß man die junge Dirigentin Simone Young desto öfter erleben darf, denn sie hatte das präzise, blitzsauber spielende Orchester stets unter Konrolle und zeigte den Herren Dirigenten, welche Fülle an Farben und Stimmungen die Hamburger Musiker zu spielen imstande sind.

„Vergessen Sie mich nicht ganz, bitte“, verabschiedete sich die Ry- sanek nach der nur bedingt gelungenen Dankesrede Gerd Albrechts beim Publikum. Die bescheidene Wiener Diva muß sich keine Sorgen machen. Noch lange wird uns im Gedächtnis bleiben, wie sie am Schluß ganz allein auf der leeren Bühne saß und den Jubel gerührt entgegennahm. Man dankte ihr die 45 Jahre Hamburg mit einem wahren Blumenregen und einer halben Stunde Ovationen.

Christian Carsten