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Ein Schlag in zwei Gesichter

Taiwans Wahlen interpretiert: Für die einen ist die Abstimmung ein Sieg der Unabhängigkeitsbewegung, für die anderen einer Pekings  ■ Aus Taipeh Georg Blume

Nach den ersten freien Präsidentschaftswahlen Taiwans waren sich Kommentatoren einig: Der überzeugende Wahlsieg des Präsidenten Lee Teng Hui am Samstag und eine Wahlbeteiligung von 76,04 Prozent sind ein Schlag ins Gesicht für die chinesische Regierung. Noch am Wahltag hatte Peking seine Kriegsmanöver vor der Küste Taiwans fortgesetzt, um Einfluß auf das Wählerverhalten zu gewinnen. Doch ging es Chinas Machthabern tatsächlich nur um eine Wahlniederlage Lees?

In Taipeh gab es gestern auch noch eine andere Lesart des Wahlergebnisses: „Wir sind sehr ärgerlich und enttäuscht. Aber die Unabhängigkeitsbewegung wird weitergehen“, sagte Liu Chuchi, eine Mitarbeiterin des Bürgermeisters von Taipeh, die bei den Wahlen den Kandidaten der oppositionellen Demokratischen Fortschrittspartei (DFP) unterstützt hatte.

Bei den Bürgermeisterwahlen in Taipeh war die DFP zuletzt mit 46 Prozent der Stimmen siegreich. Bei landesweiten Parlamentswahlen schnitt die einzige namhafte taiwanische Partei, die die volle Unabhängigkeit des Landes unterstützt, im letzten Jahr mit über 35 Prozent der Wählerstimmen ab. Doch am Samstag erreichte ihr Kandidat Peng Ming Min nur 21 Prozent. Hatte Peking am Ende doch einen Teil des Wahlergebnisses in seinem Sinne beeinflußt?

Die Wahlarithmetik vom Samstag sprach dafür. Während nämlich die zwei Außenseiterkandidaten Lin Yang Kang und Chen Li An, die im Verhältnis zu China eher gemäßigte Positionen vertreten, auf die in etwa erwarteten Ergebnisse von 15 bzw. 10 Prozent der Stimmen kamen, blieb nur der Unabhängigkeitskandidat Peng deutlich hinter den Umfrageergebnissen zu Beginn des Wahlkampfes zurück. Daß Lin und Chen gemeinsam mehr Stimmen als Peng bekamen, wertete die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua gar als „Schlag gegen die Unabhängigkeit“.

Alles deutete darauf hin, daß am Samstag über zehn Prozent der Wähler, die in der Vergangenheit bereits mit der DFP für die Unabhängigkeit gestimmt hatten, dem amtierenden Präsidenten Lee ihre Stimme gaben und damit für dessen in dieser Höhe nicht erwarteten Wahlsieg sorgten. Lees engster Berater James Chu hatte noch kurz vor dem Urnengang prognostiziert, daß Lee 50 Prozent der Stimmen nicht erreichen werde, da Taiwan eine „gespaltene Gesellschaft“ sei. Am Ende erreichte Lee sogar 54 Prozent der Stimmen.

Lees erste Reaktion am Tag nach der Wahl zeigte freilich, daß der Präsident wußte, wem er den Sieg zu verdanken hatte. „Wir werden die Politik fortführen, mit der wir Taiwans internationalen Status anheben wollen“, sagte Lee in einer Dankesansprache. Damit unterstrich er genau jene Forderung, mit der er bei den Unabhängigkeitsbefürwortern die größte Unterstützung erlangt hatte. Lee hatte im vergangenen Jahr die Aufnahme Taiwans bei der UNO beantragt und damit den Ärger Pekings auf sich gezogen.

Einen ganz anderen Ton schlug bereits gestern der taiwanische Premierminister und künftige Vizepräsident Lien Chan an: „Wir werden ernsthaft die Möglichkeit eines Friedensabkommens mit China bedenken“, sagte Lien, der insbesondere die rasche Aufnahme von Handelsgesprächen zwischen Taiwan und China in Aussicht stellte. Nichts anderes forderte der chinesische Außenminister Qian Qichen gestern in einem Gespräch mit einer Hongkonger Tageszeitung.

Beide Seiten haben damit erkennen lassen, daß sie an einer weiteren Verschlechterung ihrer Beziehungen offenbar nicht interessiert sind. In Taiwan haben die Pekinger Kriegsmanöver während der vergangenen zwei Wochen zu einem deutlichen Rückfall der Exporte um zehn Prozent im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres geführt. Während der gleichen Zeit zogen Investoren fünf Milliarden US-Dollar aus Taiwan ab, eine nie dagewesene Kapitalflucht. Derweil muß China um die Investitionen taiwanischer Unternehmen auf dem Festland bangen, nachdem mehrere Großkonzerne, darunter der Elektrogigant Sampo, für die Volksrepublik bestimmte Gelder zurückhielten.

Bei den Handelsgesprächen stehen Taipeh und Peking zudem unter Zeitdruck. Da Taipeh den direkten Handel mit dem Festland aus politischen Gründen bisher untersagt, laufen nahezu alle taiwanischen China-Geschäfte über Hongkong, das im nächsten Jahr an China zurückfällt. Gibt es bis dahin keine neue Einigung, käme der 18 Milliarden Dollar umfassende Handel zwischen den beiden Chinas plötzlich auf illegalem Weg zustande.

Auf die Grenzen der Ökonomie bei der Beilegung der Taiwan- Krise verwies indessen das fürs Wochenende angekündigte Eintreffen des zweiten US-amerikanischen Flugzeugträgers „Nimitz“ in den Gewässern um Taiwan. Mit Spannung wird erwartet, ob die US-Kriegsmarine Schiffe durch die taiwanische Straße zwischen Taiwan und dem Festland entsendet. Offenbar möchte keine Seite zuerst ein Ende der Manöver verkünden.

Den Wahlsieger in Taipeh erwartete vor diesem Hintergrund keine Verschnaufpause. „Wir haben die Tür zur Demokratie weit geöffnet“, sagte der alte und neue Präsident im Freudentaumel der Wahlnacht. Ganz Taipeh erstrahlte am Samstag abend im Licht der Raketenböller. Bei soviel populärer Begeisterung mochte auch die Rathausangestellte Liu Chuchi nicht mehr böse sein: „Wer die Stimmen für Lee und Peng zusammenzählt, erhält 75 Prozent, die gegen eine chinesische Regierung abstimmten“, tröstete sich die Unabhängigkeitsbefürworterin.

Kommentar Seite 10

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