Zurück zum großen Nachbarn

■ Rußland und Weißrußland vor neuer Union. In Minsk demonstrieren Tausende für die Selbständigkeit ihres Landes

Moskau/Gomel (taz) – „Lang lebe Weißrußland!“ und „Nieder mit Lukaschenko!“ hallte es durch die Hauptstraße von Minsk. Weißrußland erlebte am vergangenen Sonntag mit rund 30.000 Teilnehmern die größte Kundgebung seit dem Ende der Sowjetunion im Jahre 1991. Unter einem Meer rotweißer Nationalflaggen versuchten die Demonstranten zur Zentrale des staatlichen Fernsehens vorzudringen, scheiterten aber an den Schlagstöcken der Polizisten.

Das Volk wittert Verrat. Denn einen Tag zuvor hatte der weißrussische Präsident, Alexander Lukaschenko, dessen überdimensional große Bilder in den Buchhandlungen zum Verkauf ausliegen, Einzelheiten eines Unionsvertrages mit Rußland bekanntgegeben.

Demnach wird die Union, die am 2. April besiegelt werden soll, von einem Staatsrat regiert werden. Diesem sollen die Präsidenten, Regierungschefs und Parlamentspräsidenten beider Länder angehören. Vorgesehen sind ein eigener Haushalt für gemeinsame Vorhaben wie Hilfen für die Tschernobyl-Opfer und eine einheitliche Währung. Sogar an die Ausarbeitung einer gemeinsamen Verfassung ist gedacht.

Der Chef der russischen Kommunisten und Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen, Gennadij Sjuganow, frohlockte. Immerhin waren es Abgeordnete seiner Partei, die in der vorletzten Woche mit den Nationalisten in der Staatsduma den Auflösungsbeschluß der Sowjetunion annulliert hatten. „Wir können froh darüber sein, daß Präsident Jelzin und seine Regierung so schnell und effektiv auf die Entscheidung der Duma reagiert haben. Denn der Wille der Duma ist der Wille des Volkes“, sagte Sjuganow. Auch eine andere Übereinkunft paßt Sjuganow gut ins Wahlkampfkonzept. Bereits am kommenden Freitag wird Rußland mit Weißrußland, Kasachstan und Kirgisien einen Vertrag über eine umfassende Integration unterzeichnen.

Von Freude über den bevorstehenden Staatenbund ist in Weißrußland selbst wenig zu spüren. Es ist die wirtschaftliche Misere, die die Menschen der 10-Millionen- Einwohner-Republik in die Arme des großen Nachbarn treibt. Alexander Jarschak, stellvertretender Verwaltungschef des Bezirkes Gomel im Süden Weißrußlands, sieht in einer Annäherung an Rußland die einzige Möglichkeit, die mißliche Wirtschaftslage in den Griff zu bekommen. Zwei Drittel der Betriebe in der Region stehen still. Mit dem Zerfall der Sowjetunion sind die Absatzmärkte vor allem in Rußland weggebrochen, die Produkte auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig. Wenn Rußland jetzt die benötigten Rohstoffe liefert, dann nur gegen Devisen zu Weltmarktpreisen, die Weißrußland kaum bezahlen kann. „Nur eine wirtschaftliche Integration mit Rußland kann unsere Lage hier verbessern“, sagt Jarschak. Alla Borochova, Zimmermädchen im Hotel Gomel, will von einem Zusammenschluß mit Rußland nichts wissen. „Wir haben uns doch jetzt so eingerichtet, in einem eigenen Staat. Rußland geht es wirtschaftlich doch auch nicht besser“, sagt Alla. Und sie hat Angst um ihren 20jährigen Sohn. „Der muß dann vielleicht in den Tschetschenien-Krieg.“ Barbara Oertel