Warnung vor der totalitären Versuchung

■ Bei einem Symposium der Enquete-Kommission zur DDR-Vergangenheit warnt der polnische Politiker Bartoszewski vor einem politischen Rückfall

Berlin (taz) – Während im Großen Saal des Roten Rathaus von Berlin Politiker die Bauarbeiter des 17. Juni 1953 als Kämpfer für die Demokratie in der DDR lobten, protestierten die Berliner Bauarbeiter von 1996 gegen Billiglöhne und eigenen Arbeitsplatzabbau. Eine Stunde lang fuhren etwa hundert Gewerkschaftler ununterbrochen tutend um das Gebäude, so höllisch laut, daß Bundespräsident Roman Herzog, als der Lärm für ein paar Sekunden abebbte, seine Ansprache irritiert unterbrach.

So mischte sich gestern Vergangenheit und Gegenwart unüberhörbar, passend bei einem Symposium der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages mit dem Arbeitsauftrag: „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“. Da ging es auch um Ängste der Menschen in politischen Umbruchszeiten, um europäische Verantwortung und vor allem um die Bewahrung des historischen Gedächtnisses, um der demokratischen Zukunft willen. „Wege ins Offene – Erfahrungen und Lehren aus den Diktaturen des 20. Jahrhunderts“ hieß das Thema, zu dem Roman Herzog und der ehemalige polnische Außenminister und Friedenpreisträger des deutschen Buchhandels von 1986, Wladyslaw Bartoszewski, programmatische Referate hielten. Jorge Semprún, Schriftsteller und ehemaliger Kulturminister von Spanien, war zwar ebenfalls geladen, hatte aber wegen Grippe kurzfristig abgesagt. „Wege ins Offene“, vor allem das Referat von Bartoszewski, zeigte, daß so offen die Zukunft nicht ist, daß die Zeichen auf rückwärts gestellt sind. Er ist zutiefst pessimistisch über die Demokratiefähigkeit der postkommunistischen Länder, Staaten, die sozial nicht so abgefedert werden wie die Ex- DDR durch die Bundesrepublik. Sie suchen ihre Vorbilder, ihre Modelle, in den wohlsituierten westlichen Gesellschaften, in Amerika, meinte er, „aber die amerikanischen Vorstellungen über die Gleichheit der Menschen sind ihnen ziemlich fremd“. Und in dem Maße, in dem sich die Wirtschaftslagen verschlechtern, wachse auch die Gefahr der „totalitären Versuchung“, alles in der „trügerischen Hoffnung, die Ruhe und Zukunftsperspektiven durch Dekrete, harte Maßnahmen, scharfe Entscheidungen sofort zu erreichen. „Die demokratische Handlungsweise“, so Bartoszewskis Bilanz von siebzig Jahren Kommunismus, „scheint den Menschen (....) zu kompliziert und undurchschaubar.“

Die Enquetekommission, die laut Bundestagsauftrag von 1995 in den nächsten anderthalb Jahren über die Folgen der SED-Diktatur arbeiten soll, bewegt sich also nicht im luftleeren Raum und muß über die Grenzen schauen, faßt Bartoszewski zusammen. Denn im gesamten ehemaligen kommunistischen Bereich zeige sich, daß der „totgeschriebene Klassenkampf“ wieder durch eine Art nationalen Rassen- und Völkerkampf, durch Neofaschismus, Chauvinismus, Antisemitismus abgelöst wird. Und noch eine große Gefahr nannte er, eine Gefahr, die auch in den westlichen Ländern bestehe: Dies sei die „Relativierung aller Begriffe von Schuld und Sühne“, die Relativierung von Menschenrechten aus eigenem, opportunistischem Kalkül.

In diesem Punkt berührte sich die Rede des Auschwitz-Überlebenden Bartoszewski mit der Rede von Roman Herzog. Gegen die Befürworter einer generellen und undifferenzierten Amnestie wandte dieser ein, daß ausschließlich die Großen, also die Verletzer der Menschenrechte, davon profitieren würden. „Ich habe meine Zweifel, ob dies dem Rechtsfrieden dienen würde.“ Und Herzog betonte ausdrücklich: „Für wirklich flagrante und schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen kann es meines Erachtens keine Amnestie geben. Wir können nicht die Idee der Menschenrechte zur Grundlage unseres Staatswesens machen und gleichzeitig Personen, die sie mit Füßen getreten haben, straflos ausgehen lassen. aku