: Todestrieb und Kleinfamilie
Man verschlingt das in drei Tagen und muß sich schon sehr wundern: Helmut Kraussers Roman über die Romantik, die Kleinfamilie und die deutsche Katastrophe: „Thanatos“ ■ Von Detlef Kuhlbrodt
Der Winter war grausam und führte durch sein Nichtfertigwerdenkönnen dazu, daß man die Dinge, die zu tun sind, vor sich hin und her schob; daß man also eigentlich nichts machte, außer auf die wichtigtuerischen Dinge zu starren, die unbedingt getan werden wollten und die man dann natürlich doch nicht machte: Steuererklärungen, Abwaschen ... Dann kommt ein Fünfhundertseitenroman daher, dessen blöder Titel ganz gut zur eigenen Blödigkeit paßt, und sie sozusagen per Verdopplung wieder wegwischt. „Thanatos“, den vielgelobten vierten Roman von Helmut Krausser, liest man also in drei Tagen; zu Haus, in der U-Bahn, ohne Scheu vor den Mitfahrenden, die über den Titel, also auch über einen selbst, lachen könnten, oder im Café. Drei Tage lang fühlt man sich wie im Kino gefesselt.
Danach überlegt man sich, was da wohl geschehen sein mag, denn eigentlich und wenn man sich's genau überlegt, ist „Thanatos“ eher ein doofes Buch: Fast durchgehend unsympathische Helden, eine ausgedacht wirkende Geschichte, die das Abgleiten der ästhetischen Existenz des Geisteswissenschaftlers in den Wahnsinn schildert, allerlei Bildungshubereien mit eingestreuten Romantikerzitaten von Wackenroder über Hölderlin bis zu „Des Knaben Wunderhorn“. Anfangs stolpert man auch manchmal über allzu schneidige Metaphern („schnitt er seine Brust auf und zeigte sein Herz, sein fleckiges, erigiertes Herz, hielt es in die Sonne wie ein strampelndes Kind“). Und daß der Autor zur Walküre onaniert, wie er in seinen neulich veröffentlichten Tagebüchern schreibt, ist auch nur lustig, weil der Rezensent der Frankfurter Rundschau dazu meint: „Wer Walküre hört und dabei masturbiert, kann kein ganz schlechter Mensch sein.“
Die meisten Rezensenten befanden, daß es in „Thanatos“ um deutsche Mentalitäten gehe. Schließlich steht auch schon im Klappentext, daß in dem Roman sichtbar würde, „wo das typisch Deutsche seine Wurzeln hat“, und Tod und Deutschland passen ja bekanntlich gut zusammen – die Romantik endet in Auschwitz, der Tod ist ein Meister aus Deutschland, na, Sie wissen schon. Existenzphilosophie, Innerlichkeit, Grübeleien, Kopflastigkeit, Dreinschlagenwollen, Nachdenken über Vernichtung usw. Naja; auch anderswo pflegen Intellektuelle berufsbedingt herumzugrübeln. Wie der Fußballer seine Beine, verschleißt der Kopfarbeiter eben seinen Kopf.
Vor ein paar Jahren hat „der junge Münchner Dichter“ (32) geschrieben: „da waren Männer, die taten Dinge“. Das war klasse, schön und gut beobachtet. In „Thanatos“ gibt sich der Held – Konrad Johanser – eher kontemplativ. Als klassischer Melancholiker „in Feindschaft mit sich und seiner Umgebung“ zählt er die Sekunden, „und wenn sechzig zusammen waren, flocht er ihnen ein Bändchen um und schrieb MINUTE drauf, und wenn sechzig Bändchen zusammen waren, legte er sie in einer Kiste namens STUNDE ab und wenn sich zwölf Kisten vor ihm hoch stapelten, weigerte er sich, sie als Tag anzuerkennen, rannte aus der enggewordenen Wohnung, hockte sich mit Wein an die Spree und soff, in der Böschung versteckt, bis die NACHT vorbei war“.
Konrad Johanser, der Held um die dreißig, wird dem Leser als Melancholiker vorgestellt. Ein lebensfremder Germanist mit streberhaft bis genialischen Zügen, der traurig immer daran denken muß, wie die Zeit vergeht, auch wenn äußerlich alles bestens zu sein scheint: Er hat sein Germanistikstudium mit Schwerpunkt deutsche Romantik in sieben Semestern mit Auszeichnung hinter sich gebracht; er hat die Gestörtheit des leidenschaftlichen Studenten abgelegt, der während seines Studiums keinerlei Freundschaften pflegte und bestenfalls mal in den Puff ging. Am Ende des Studiums verwandelt er sich, spricht freundlich mit den Kommilitonen und findet Liebesglück bei Katrin, einer jungen Malerin. „Fünfhundert Orgasmen“ werden in „fünf Monaten“ absolviert. Der Wissenschaftler ist dabei eher polymorph pervers orientiert. Gern läßt er sich anpissen und liebt es auch, stundenlang Füße zu lecken, und deklamiert solang Verse, bis er denn kommt. Aber das machen ja bekanntlich alle Germanisten so, daher spielt es weiter keine große Rolle, und Krausser berichtet davon auch in angenehmer Beiläufigkeit.
Johanser findet eine Anstellung als Archivar im Berliner „Institut für Deutsche Romantik“. Nach dem Tod des alten Chefs besetzt er dessen Position. Soviel zum Aufstieg und zur Exposition. Geheiratet wird auch noch, und dann muß natürlich alles langsam zusammenbrechen.
Mit der Zeit verliert Johanser das Interesse an seiner ehrgeizigen Frau und beginnt eine Affäre mit der heroinsüchtigen und ziemlich kranken Prostituierten Somnambelle. Im Institut spinnen die alteingesessenen Angestellten Intrigen gegen den besserwisserischen Emporkömmling. Johanser reagiert mal devot, mal arrogant, immer ungeschickt. Er zieht sich zurück an seinen Schreibtisch und beginnt sein Talent zur Handschriftenfälschung zu entdecken. Er erfindet Briefwechsel und versteckt seine Fälschungen in den Kellern des Archivs. Man findet die Texte, ein ganz neues Licht fällt auf die Romantik; das von Finanzkürzungen bedrohte Institut macht nachhaltig in der Öffentlichkeit auf sich aufmerksam, die anstehende Schließung wird verhindert; als die Echtheit der Funde bezweifelt wird, verliert Johanser seine Stellung und nimmt – um alles in der Entfernung noch einmal zu überdenken – bei Verwandten in einer bayerischen Kleinstadt eine klassische Auszeit vom Leben.
In Niederenslingen, das Krausser als dörfliches Todestheater inszeniert – leben Onkel Rudolf, Tante Marga und Beni. Eine trostlose, deutsche Kleinfamilie: der wortkarge Rudolf sitzt die meiste Zeit im Hobbykeller und versucht mit komplizierten Apparaten, die Stimmen Verstorbener aus dem weißen Rauschen zu filtern; die Tante ist harmonie- und putzsüchtig. Sie bestreicht den Baum vor dem Zimmer des Sohnes mit Mehl, um am nächsten Tag zu wissen, ob der wieder in die Nacht ausgerissen war. Der Sohn, Beni, ein 16jähriger Außenseiter, mag seine Eltern nicht besonders. Er findet, „einen Behinderten solle man gefälligst nicht auf seine Behinderung ansprechen“. Er spricht einen eher reduzierten Jugendjargon beziehungsweise das, was sich Krausser unter Jugendjargon vorstellt, und schätzt Markenturnschuhe.
Johanser fühlt sich in der Kleinfamilienwelt wohl wie nie zuvor in seinem Leben. Während sein Neffe mit der brutalen Wahrheitsliebe des Pubertierenden gegen seine Mutter opponiert und sie gern auch mal verletzt, beobachtet Johanser milde und läßt sich verwöhnen. Er sieht zwar die Lächerlichkeiten seiner Tante, doch stören sie ihn nicht weiter. Sie geben ihm die Möglichkeit, die Vorzüge des Erwachsenseins mit denen des umsorgten Kindseins zu kombinieren. Die mit ihren Sorgen nervende Tante Marga ist begeistert über den wohlerzogenen Gast, der sich um Vermittlung zwischen Mutter und Sohn bemüht und nachts, heimlich wie ein kleiner Junge, aus dem Fenster steigt, um sich seine täglichen Alkoholrationen zu holen. Rudolf ist eher skeptisch, wie auch Beni, der Johansers schleimige Verbrüderungsversuche wortkarg abwehrt.
Johansers Tage gleichen einander: Tagsüber geht er Landschaft angucken, nachmittags sitzt er in der örtlichen Gastwirtschaft und beobachtet die hübsche Kellnerin, ohne allerdings große Anstrengungen zu unternehmen, sie für sich zu gewinnen. Johanser ist kein Mann des Handelns; so baut er sie lieber in seine Onanierphantasien ein. Sie, zunächst eigentlich nicht desinteressiert, verlobt sich dann jedoch mit dem feisten und selbstzufriedenen Gastwirt.
Einmal fährt Johanser in seine Heimatstadt, die Wohnung seiner toten Eltern besuchen. Ab und an besucht er einen greisen Einsiedler im Moor, der, an Ernst Jünger erinnernd, Fliegen und Schreie sammelt, poetisch von grausigen Todeslandschaften unterschiedlicher Ordnung spricht, als weiser Narr Johansers Zukunft zu kennen scheint und Sachen sagt wie: „Wir alle sind verlorengegangene Fetzen Gottes. [...] Vielleicht ist das der Grund, warum man immer wieder stirbt – man wird woanders ausprobiert.“ Etwas Ähnliches meint man zwar schon mal irgendwo (Kafka?) gelesen zu haben, das stört aber nicht weiter.
Im Familiendrama beginnt der in seiner Kindheit brutal von seinen Eltern mißhandelte Johanser, die Stelle seines Neffen einzunehmen. Zunächst besetzt er dessen Zimmer, später schläft er mit Benis Freundin, dann besucht er dessen Lehrerin, um Auskunft über dessen schulische Leistungen zu bekommen, schließlich bringt er ihn um. Gegen Ende des Buchs schreibt er in der Schrift des vermeintlichen Ausreißers Briefe an die Eltern, wird schizophren, identifiziert sich mit dem Toten und stellt sich vor, als dynamisches Duo mit Beni endlich befreundet, Berlin zu entdecken. Wißbegierig lernen beide voneinander. Der Roman endet in Fragmenten und Variationen, die ein bißchen eitel das Fälschungsmotiv variieren.
Über dies und das in „Thanatos“ läßt sich leicht mäkeln. Viel wichtiger ist anderes: Wunderbar trifft Krausser den normal-depressiven Kleinfamilienalltag, liefert mitreißende Schilderungen der Verzweiflung, die den Verzweifelten auch zum Idioten machen und vor allem schreibt Krausser mit einer Leidenschaft, die man sonst nur bei leider meist zweitklassigen Undergrounddichtern findet.
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