■ Arte povera aus Gelsenkirchen
: Literatur auf dem Haken

Wer als Autor in der ärmsten Stadt Nordrhein-Westfalens lebt, dem drängt sich irgendwann unweigerlich die Erkenntnis auf: Literatur ist für'n Arsch. So ging es dem Gelsenkirchener Jürgen Schimanek, und aus der Not machte er sogleich eine Tugend. „24 Abwischblätter mit Geschichten vom guten Ton“ hat er jüngst vorgelegt – kunterbunte Notizen tief aus dem Herzen der Ruhrprovinz, stilecht auf ein wüstes Zettelsammelsurium gedruckt. Das Ganze hat auch noch einen Haken, hübsch häßlich aus Draht zurechtgedreht und -gebogen (er gemahnt an eine dorische Säule), so daß die Prosasammlung verbraucherfreundlich an jeder Klowand befestigt werden kann. Noch heute soll sich übrigens diese Art von Zettelwirtschaft, bei der man nachhaltige Erfahrungen mit der Druckerschwärze macht, auf so manchem stillen Ruhr-Pott erhalten haben.

Schimaneks aktuelles Opus – für das stimmige Design zeichnet der Düsseldorfer Peter Hölscher verantwortlich – setzt eine lange Serie ähnlich handfester und heimatverbundener Poesieobjekte würdig fort. Da gab es schon Liebesgedichte auf Schmirgelpapier oder in der schlagwetterfesten Butterbrotdose, Chefarztverse auf original Urinbeutel und Europa-Flickenlyrik an plattem Lkw-Schlauch (s. taz vom 8.12.94). Einem Gelsenkirchener Museumsleiter wurde eine Huldigung in Sülz-Surrogat zuteil, dem Generalintendanten des Musiktheaters ein Treuegedicht auf Zaunpfahl, und auch Bremsbacken, Staubsaugerbeutel und sogenannte Arschleder (aus dem Bergbau) dienten Schimaneks frohen Botschaften schon als Träger.

In seiner neuen, schief und krumm aufgespießten Loseblattsammlung gibt sich der Autor, den Zeiten entsprechend, diesmal betont prosaisch. Bei 17 Prozent Arbeitslosigkeit ist guter Reim teuer. In wackeliger Schreibmaschinenschrift werden da Leserbriefe nachempfunden („Neuerdings schließt man sogar die Toiletten auf den Friedhöfen ab. Sonntag nachmittag wollte ich mit meiner Frau und meinen beiden Kindern auf dem Friedhof von Bolmke- Hullen dringend ...“), seltsame Behördengänge protokolliert („Und warum darf ich meinen Jungen nicht Jerome nennen?“) und verquere Dialoge beim Arzt, Fahrradhändler oder in der chinesischen Imbißbude eingefangen („Ich kuck' ja nicht auf Ihr Schoppsu, ich kuck' nur auf Ihren Mund“). Der Hausmeister des neuen SPD- Landtagsabgeordneten gibt Besuchern nützliche Bekleidungstips, damit „Se bei Diethelm gleich 'n Stein im Brett“ haben, das Martinsgansessen „bei unserer Clubkameradin Rosi“ läuft saumäßig aus dem Ruder, und im Schwimmbadspind hockt unverhofft der Bademeister und jagt Kakerlaken – die Gesundheitsdezernentin zahlt 50 Pfennig pro Stück.

Kenner beachten unbedingt auch die Rückseiten dieser Abwischfetzen. Hier lassen die so getreulich besungenen Emscherländer Alltagsniederungen noch einmal grüßen. Fragmentarisch taucht Reklame für „Robot-Soft“-Handwaschpaste und „Spickermanns Leckereien“ auf, wir halten Lohnabrechnungsformulare, Reiseangebote oder Geschäftspapiere von „Heinrich Nowak, Steuerberater“ in Händen, ja, selbst eine Literaturliste zum Thema „Kunst und Umwelt“ und aktuelle Gelsenkirchener Kulturtermine haben sich an den spitzen Haken verirrt. Verschiedene Leute in der Stadt sollen schon sehr, sehr beleidigt sein.

Um alles in Ruhe studieren zu können, hänge man am besten das Titelblatt vor die Tür und schließe ab: „Besetzt!“ Olaf Cless

„Besetzt!“ ist derzeit noch zum Subskriptionspreis von 60 DM zu haben: Fegefeuer Press, Küppersbuschstr. 27, 45833 Gelsenkirchen. Tel.: 0209/49 84 69; Fax: 0211/70 65 95