Honiggelbe Steine statt Seeigeln

„Bernstein hat viele Gesichter“: Detlef Wolff und Nathalie Seidenath projizieren Insekten in fossilem Harz an die Wand ihres Secondhandshops. Blend-a med poliert am besten  ■ Von Wolfgang Müller

Auf dem Boden von Nathalie Seidenaths Secondhandshop „Next Door“ im Parterre eines Gründerzeithauses am Mehringdamm verteilen sich sonderbare Gerätschaften.

Zwischen Cocktailkleidern und Kunstfellstiefeletten wirft ein an einen Stiel geschraubter Miniaturhalogenscheinwerfer gleißendes Licht durch ein Vergrößerungsglas auf ein Weinglas, das auf einer sich langsam drehenden Scheibe von 20 cm Durchmesser steht. Im wassergefüllten Weinglas schaukeln zwei Bernsteine munter an der Oberfläche. Während der Scheinwerfer seine Elektrizität durch Strom aus der Steckdose bezieht, erfolgt der Antrieb der türkisfarbenen Drehscheibe durch unter dem Vergrößerungsglas liegende Solarzellen, die etwas Licht vom Scheinwerfer erhaschen.

„Sieht aus, als ob der Stein in einem großen Ei schwebt“, raunt Nathalie, während vor dem Kellerfenster die letzten Schneeflocken des Jahres den Bürgersteig bedecken. Hinter dem Weinglas befindet sich ein weißrandiger Kosmetikspiegel, ein Hohlspiegel, der das Bild als kopfstehende Projektion auf eine Filmleinwand wirft, die in drei Metern Abstand aufgebaut ist.

Durch Manipulation am Spiegel vergrößert und verkleinert Detlef Wolff (37) die Steine in der Projektion. An den Bernsteinverjüngungen hat er kleine Styroporstreifen angebracht. Auf diese Weise halten sich die Steine an der Wasseroberfläche. In der Projektion erscheint es dann, als stünden sie aufrecht. Langsam und anmutig drehen sich die leicht geschliffenen, transparenten Steine. Ätherische Musik ertönt.

Manche der durchscheinenden Bernsteinformen erinnern an Skulpturen von Henry Moore, andere verweisen eher auf ihr eingefrorenes Innenleben: Mücken, Spinnen und Ameisen – lebendig begraben im Baumharz vor Millionen Jahren. Und hin und wieder, an den Außenseiten, schuppenartige Negativabdrücke von Baumborken und Schmutzpartikeln eines uralten Waldes. Nach einigen Minuten löst sich das Bild in kristallinen, kaleidoskopartig entblätternden Formen auf, erzeugt durch das geschliffene Glas eines Karaffenverschlusses, das vom Vorführer langsam zwischen Weinglas und Spiegel bewegt wird. Dann liegt ein neuer Stein im Glaskelch, und die Show setzt sich fort.

„Damit haben wir uns die Winterzeit vertrieben“, lächelt Nathalie und schaut unentwegt auf die Leinwand. Detlef Wolff hat die 43 Minuten dauernde Bernstein- Show im Laufe von fünf Jahren entwickelt. Der passionierte Sammler sagt: „Bernstein hat viele Gesichter.“ Angefangen hat alles 1976, als Detlef in einer Kiesgrube im Grunewald nach 80 Millionen Jahre alten Seeigeln suchte. „Plötzlich fiel aus einer Braunkohleschicht ein honiggelber Stein. Ich wußte gar nicht, was das war, und fragte den Baggerführer, der in der Grube malochte.“ Detlefs Augen funkeln, wenn er davon erzählt. „Der sagte nur: ,Da hättense früher kommen müssen, da ham wa tausend große Stücke rausgeholt. Die Lkw-Fahrer ham sich drum jekloppt.‘“

Jedenfalls erwachte so die Leidenschaft zum Bernstein, und Detlef ist seither stets zur Stelle, wenn irgendwo in Berlin der Bagger ein Loch in den Sand reißt. Wie viele Bernsteine er hat, weiß er nicht: „Die Sammlung dürfte mittlerweile etwa 20 Kilogramm umfassen, meistens sind das kleine Steine, aber ich habe auch ein paar große. Mein Prachtstück wiegt über 300 Gramm.“

Seitdem die Mauer fiel, kamen viele neue Fundstellen im Berliner Umland dazu. Detlef kennt sie alle. Liegen die Steine da so in den Gruben herum, oder muß man gezielt nach ihnen graben oder sie aus dem Erdreich sieben? „In acht bis 15 Metern Tiefe von Kiesgruben erstrecken sich kleine Braunkohleflöze, Linsen genannt, höchstens 30 Zentimeter hoch und fünf bis zehn Quadratmeter groß. Das sind die ergiebigsten Fundorte. In diesen ruht mal mehr, mal weniger, manchmal aber auch gar kein Bernstein“, erläutert Detlef. „Gar kein Bernstein? Wie kommt denn das?“ „Das kommt darauf an, ob die Ablagerung aus angeschwemmtem Kiefern- oder Laubwald besteht“, beruhigt mich Detlef. „Das Harz, aus dem der Bernstein besteht, wurde hauptsächlich von Nadelbäumen abgesondert.“

Für die Bernstein-Show hat Detlef einzelne Steine mit sanftem Schmirgelpapier bearbeitet und mit Zahnpasta poliert. „Blend-a med ist am besten. Die kleinen Putzkörnchen schleifen den Bernstein schonend glatt.“ Das Harz mit dem Härtegrad 2,5 bis 3 ist nämlich sehr empfindlich und bröckelt leicht. „Bernstein aus Bitterfeld ist 22 Millionen Jahre alt, den hab ich haufenweise. Der baltische dagegen kommt auf 55 Millionen Jahre. In Palmnicken an der Bernsteinküste ist die weltweit wichtigste Lagerstätte. Die von 30 bis 40 Meter mächtigen Tonschichten bedeckte ,Blaue Erde‘ enthält ein bis zwei Kilo Bernstein pro Kubikmeter Sand. Der wird da professionell abgebaut.“

Für die industrielle Verwertung hat der Bernsteinexperte allerdings nur wenig Verständnis: „Ich finde es schade, wenn die natürliche schöne Form zerstört wird.“ Der industriell verwendete Stein wird erhitzt, klargekocht und dann in eine Form gegossen. Das Ergebnis ist ein symmetrischer Schmuckstein oder eine genormte Zigarettenspitze. Mit Zigarettenspitzen aus Bernstein glaubte man übrigens früher die gesundheitsschädlichen Eigenschaften des Rauchens ausgleichen zu können. „Bernstein ist doch kein Kristall!“ Detlef jedenfalls liegt mehr daran, die natürlich gewachsene, ursprüngliche Form des Baumharzes zu betonen. Ein dunkelrotes Bernsteinherz – „Ich habe es bei meiner sechswöchigen Kur in Wandlitz hergestellt“ – dreht sich derweil über die Leinwand und Nathalie beendet den begleitenden Ausdruckstanz mit einer graziösen Geste.

Nächste Bernstein-Show: Heute und morgen, 21 Uhr. Nathalies Secondhandshop „Next Door“, Mehringdamm 97, Tempelhof. Eintritt frei.

Bernstein, ein fossiles Harz, ein Gemenge von etwa 78% Kohlenstoff, 10% Wasserstoff, 11% Sauerstoff, 0,4% Schwefel u. a.; amorph mit muscheligem Bruch, spröde, durchsichtig bis undurchsichtig trüb, hellgelb über orange bis braun, Härte nach Mohs 2 bis fast 3, Dichte 1 bis 1,1 g cm3. (Naturwissenschaft und Technik, VEB Brockhaus Verlag Leipzig, 1968).