Strümpfe für 52 Ballettbeine gesucht

■ Das Fernsehballett der ehemaligen DDR überlebt in der freien Marktwirtschaft. Emöke Pöstenyi: "Weil es uns im Westen nicht gab, mußten wir im Osten nicht abgewickelt werden." Von Torsten Preuß

Von Torsten Preuß

Vielleicht mußte Lenny Krevitz einfach nur mal pinkeln. Oder seine Freundin küssen. Oder noch mal Luft holen und am dicken Rohr ziehen. Egal. Jedenfalls kam er ewig nicht, und so standen wir in Berlin im dem umgebauten Busdepot herum, tranken Bier aus Pfandbechern und vertrieben uns die Zeit damit, alte Ostgeschichten zu erzählen. Drei waren extra aus Dresden zu dem Konzert gekommen. Es war wie immer, wenn ein paar Ostler sich wiedersehen. Je mehr Jahre ins Land gehen, um so lustvoller geraten die Erinnerungen an die Köstlichkeiten des realsozialistischen Alltags.

Das Bier floß, der Spaß war groß, aus der Masse kamen die ersten Pfiffe, und weil die Bühne immer noch dunkel blieb, sagte einer mehr aus Jux: „Mensch Alter, so lange Pausen gab's doch nicht mal im ,Kessel Buntes‘.“ Das war die Samstagabend-Show des DDR- Fernsehens. Und weil die in Dresden wegen Reichweitenproblemen faktisch außer Konkurrenz lief, kannten sie alle und mußten lachen. „Und wenn doch, dann kam das Fernsehballett.“ „Yeah, mit Emöke Pöstenyi als Solotänzerin!“ „Ja genau, die schönste Ungarin westwärts des Balatons.“

Und dann stellte irgend jemand die Frage: „Gibt's die eigentlich noch?“ Zu vieles ist im Laufe der Jahre verschwunden, man verlor irgendwann den Überblick.

Gibt es sie noch, die Showgirls der Arbeiterrepublik? „Im Prinzip ja“, würde Radio Eriwan antworten, „aber irgendwie auch nicht.“ In der Kelleretage des Senders Freies Berlin (SFB) gibt es viele Gänge, viele Treppen und Türen. Dort, wo Musik zu hören ist, ist man richtig. Es ist Dienstag morgen, kurz nach zehn Uhr, und auf dem Trainingsplan steht klassischer Tanz. Sechs junge Frauen und zwei Männer bewegen sich auf Zehenspitzen. Das Tempo bestimmt der Klavierspieler. In großen Spiegeln kontrollieren die TänzerInnen ihre Bewegungen. Eigentlich ein schöner Tag für sie, denn hinter ihnen liegen die Strapazen einer Tournee. Stundenlange Busfahrten, enge Hotelzimmer. Kaum Zeit, kaum Platz, den Körper so zu behandeln, wie er es verdient dafür, daß er jeden Abend an einem anderen Ort all die komplizierten Figuren und Bewegungen bringt. Das Reisen macht nur bedingt Spaß, ist aber mittlerweile Alltag geworden für die insgesamt 26 Tänzerinnen und Tänzer des ehemaligen Fernsehballetts der DDR.

Was sie einmal waren, sind sie längst nicht mehr

Was sie einmal waren, sind sie längst nicht mehr. Und was sie seitdem sein wollen, sind sie noch lange nicht. Ende 1991, das DDR- Fernsehen sendete in seinen letzten Zügen, machte der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) dem Ensemble ein Angebot. In einer Blitzaktion wurden vier weitere Gesellschafter gesucht und gefunden. Anfang 1992 wurde die „MDR Deutsche Fernsehballett GmbH“ gegründet. Im Mai zogen die TänzerInnen in den Keller des SFB ein. Im Sommer 1992 wurden sie in die freie Marktwirtschaft entlassen.

Das war nicht immer einfach, aber das Fernsehballett hat überlebt. Warum, dafür könnte es eine ziemlich einfache Erklärung geben: „Weil es im Westen nichts Vergleichbares gegeben hat“, sagt Emöke Pöstenyi, 54 Jahre alt und immer noch so schön wie damals.

Wenn es in der Gruppe einen Star gab, dann sie. Erst war sie Solotänzerin, dann Chefchoreographin, die den Stil des Ensembles prägte. Einst war sie eine der drei attraktivsten Frauen auf den Bildschirmen der DDR. Ihre dunkeln Augen werden noch größer. Die Erklärung gefällt ihr: „Weil es ein Fernsehballett im Westen nicht gab, mußte es im Osten nicht abgewickelt werden.“

Tja, Glück gehabt. Aber ein Blick durch das Büro relativiert das. Irgendwie sieht Glück im Showbiz anders aus: Stühle statt Sessel, Tischdecken statt Glas. Emöke Pöstenyi zieht an ihrer „Duett 100“, im Osten damals so etwas wie eine Schickimicki-Zigarette. Gewohnheit? Treue? Der Rauch ist dünn. „Es gab keinen Grund umzusteigen.“

Aber sonst mußte sich alles ändern: „Es gab Momente, in denen wir dachten, es ist aus.“ Das DDR- Fernsehen war abgewickelt und ein Fernsehballett ohne Fernsehen war so überflüssig wie ein Palast ohne Republik. Ab und zu wurden sie von ARD, ZDF oder RTL als tanzender Hintergrund für Sendungen auf Heimatmusikniveau gebucht. Es war schwer, erleben zu müssen, wie das auch im Westen wegen seiner absoluten Professionalität geschätzte Ensemble im neuen Deutschland ums Überleben tanzen mußte. In die Schlagzeilen kamen sie höchstens als Altlast. Der Spiegel spottete über „die Tanzmäuse“, „die auf Urologenkongressen tingeln müssen“.

Das war nicht unbedingt das, was sie sich von der großen Freiheit erhofft hatten. Emöke Pöstenyi zuckt hinter dem Rauch etwas verächtlich mit den Mundwinkeln. Mit dem nächsten Zug aber kommt das Lächeln zurück: „Wir haben auch richtig gute Sachen gemacht.“

Künstlerisch wertvolle, sozusagen. „Alles baletti, carmina burana“ zum Beispiel, ein preisgekröntes TV-Special, das zu Ostern Premiere hat. Und einen „Tatort“- Krimi, der am Sonntag gesendet wird. Darauf ist sie stolz, obwohl sie weiß, daß solche Herausforderungen früher Alltag waren.

Budapest, Ende der Fünfziger und noch nicht das „Paris des Ostens“: die Welt drehte sich woanders. Emöke Pöstenyi war gerade 16 Jahre alt und froh, daß dem Mann aus Deutschland gefiel, was sie in acht harten Jahren an einer privaten Ballettschule gelernt hatte. Er lud sie ein, in die Hauptstadt der DDR zu ziehen, um als eines von mehreren jungen Talenten dem Sozialismus in der Frontstadt schöne Beine zu machen. West- Berlin war immer schicker geworden, also zogen die Ost-Genossen nach. 1960 kam Pöstenyi in das Ensemble des Friedrichstadtpalastes: „Das war eine große Zeit. Tagsüber Proben, abends Vorstellungen, und danach zogen wir durch die Künstlerkantinen.“

Das gab es in Europa und beim Klassenfeind nicht

1962 glaubten die Genossen, dem Klassenfeind um eine schöne Idee voraus zu sein: Sie peppten ihr Staatsfernsehen mit dem Fernsehballett auf. Das gab es in ganz Europa nicht. Mit acht Tänzerinnen ging es los. Als Emöke Pöstenyi ein Jahr später einstieg, hatten die Verantwortlichen immer noch Schwierigkeiten mit der Umsetzung: „Am Anfang wußten die beim Fernsehen gar nicht, was sie mit uns angangen sollten.“ Aber beschlossen hieß bekanntlich beschlossen. Also wurde der Plan erfüllt. Die Auswahl war hart. In die Truppe kamen nur die Biegsamsten, trainiert in den Tanzinternaten der DDR. Dann kam der „Kessel Buntes“. Samstagabend-Show mit Weltniveau wollten die Genossen haben. Für das Fernsehballett brachen goldene Zeiten an. Nach anfänglichen Zensurversuchen konnte die Truppe so ziemlich alle musikalischen und modischen Trends verarbeiten, Punk oder Heavy Metall, Funk oder Pop.

Über 1.400 Tänze hat das Ballett in über 30 Jahren erarbeitet, 30 davon sind jederzeit abrufbar. So gut wird man nur mit Ausdauer und Disziplin. Vielleicht liegt es daran, daß sie bis heute zusammen sind, eine irgendwie verschworene Gemeinschaft. 1994 wurden sie mit der „Statue des Paul-Klinger-Sozialvereins“, einer Künstlerkasse, ausgezeichnet. Begründung: „Das Ensemble erhält den Preis für seinen Zusammenhalt und seine Solidarität in der Wendezeit, die maßgeblich zur Rettung des Ensembles beigetragen haben.“

Emöke Pöstenyi ist sicher: „Wir sind wirklich etwas Besonderes.“ Stolz ist sie auch, daß die Truppe mittlerweile in der Lage ist, eine Stunde Vollprogramm ohne weitere Künstler zu gestalten. Das kostet komplett 35.000 Mark, wird aber nur selten gebucht. Der Alltag ist eher schlicht.

Das Morgentraining ist zu Ende, das Klavier ist stumm, die Tür geht auf, Pause. Angelika Honig-Barnowski fällt auf einen Stuhl und fängt an, Chips aus der Tüte zu essen. „Mein Frühstück“, sagt die 29jährige Solistin. Bei ihr klingelte das Telefon noch vor der Wende und eine Stimme aus dem Westen machte ihr ein Angebot. Man habe sie im DDR-Fernsehen gesehen und wolle mit ihr zusammenarbeiten. Das ging damals noch nicht, aber als die dafür bekannten Gründe wegfielen, fuhr sie sofort ins „Phantasialand“ nach Köln und blieb. Tanzte im ersten Jahr Solo, bekam eine eigene Choreographie, eine eigene Fernsehübertragung und als Stargäste Siegfried und Roy aus dem heißen Las Vegas: „Sie wollten mich unbedingt behalten, aber ich bin dann doch wieder zurück.“ Sie ißt noch ein paar Paprikachips und scheint zufrieden: „Wir sind wirklich einmalig. Wir können alles tanzen, von Klassik bis Rock. Und das schönste, man nimmt uns alles ab.“

Ihr Problem ist nur, daß sie das alles viel zu selten beweisen müssen. Heute bestimmt den Takt der Musik der freie Markt. Natürlich möchte sie lieber Techno oder Grunge oder sonstwas Geiles tanzen. Aber die Nachfrage ist von anderer Art. Hinter ihr liegt eine Tournee durch den Süden des Ostens: „Frühlingsfest der Volksmusik“.

Das Fernsehballett sucht Sponsoren, aber auf die Idee, 26 schöne Menschen als Werbeträger zu nutzen, ist noch niemand gekommen. Angelika Honig-Barnowski schaut ihre langen Beine entlang. „Für Strumpfhosen zum Beispiel“, sagt sie und zwinkert mit den Augen.

Der „Tatort“-Krimi „Bei Auftritt Mord“ wird am Sonntag, 31. 3. 1996, im ARD-Fernsehprogramm gesendet. Regie: Peter Vogel