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Tückische Geschichte

■ Neu in der Weserburg: Fake-Biografien von Christian Boltanski

Oma im Strandkorb, Opa in Uniform, Kinder beim Geburtstagsfest: Es sind triviale Motive wie diese, aus denen sich Geschichten und Geschichte zusammensetzen. Wie das funktioniert, führt uns seit einigen Jahren der Künstler Christian Boltanski vor Augen. Privatfotos, Abbildungen aus Zeitungen und andere Fundsachen fügt er zu Biografien zusammen und vertreibt sie in Buchform. Dazu gehört stets eine sehr amtlich und dokumentarisch wirkende Aufmachung. Die uns in die Irre führt: Zwischen wahrem Bild und erfundenem Lebenslauf läßt sich bei Boltanski kaum unterscheiden. Geschichte als Konstruktion: Dieser Prozeß wird den Betrachtern permanent vor Augen geführt. Das Neue Museum Weserburg zeigt jetzt einen umfangreichen Überblick über die tückische Historienkunst Boltanskis.

Auch seine eigene Lebensgeschichte nimmt Boltanski von diesem Spiel nicht aus. Seine ersten Künstlerbücher kreisten ausschließlich um die Person des Künstlers. All die verschämten, neugieren Blicke in die privaten Winkel des Künstlerlebens bietet Boltanski seinem Lesepublikum im Übermaß: Fotos – hübsch grobgerastert – dokumentieren, wie der Künstler das Treppengeländer (seiner Wohnung?) herunterrutscht (und zwar am 15. Oktober 1949), wie er sein Frühstück zu sich nimmt und wo er schläft: „Christian Boltanski zeigt die Stelle, an der sich zwischen 1948 und 1953 sein Bett befand", so ein lakonischer Untertitel.

Stimmen Zeit- und Ortsangabe? Handelt es sich überhaupt um Boltanski selbst? – Alles eine Frage der Einbildung, sagt dieser. Das gilt auch für seine neueren Themen und Bücher. Was so heiter mit autobiografischem Unsinn beginnt, setzt sich auf ernsterem Gebiet fort. Aus dem unerschöpflichen Fundus alter Privatfotos greift Boltanski Aufnahmen aus der Nazizeit heraus. Aneinandergereiht, ohne Kommentar, geben sie ein seltsam diffuses Bild von Geschichte. In diese Offiziersgesichter können wir alles Mögliche hineingeheimnissen. Aber die wahre Geschichte, das macht diese Methode deutlich, entzieht sich der Fotografie. Übrig bleiben Klischees, die bereits vor der eigentlichen Aufnahme ihre vorgefertigte Bedeutung hatten: der Tag am Meer, der lustige Geburtstag, der Tag der Einberufung.

All das wird im Museum leider auf wenig anschauliche Weise dargeboten. Wie man Künstlerbücher, diesen Sonderfall der Kunstproduktion, einem größeren Publikum zeigt: Dieses Problem wird in der Weserburg-Ausstellung eher aufgezeigt als gelöst. Fast alle Bücher sind in matt beleuchteten Vitrinen ausgelegt, alles fest verschlossen, Blättern verboten. Zusammen mit den abgedunkelten Museumsfenstern ergibt sich eine dumpfe, sakrale Atmosphäre. Das mag dem auratischen Kunstbegriff des Direktoriums entgegenkommen; auf eventuell hereinschauendes Publikum wirkt es bloß abschreckend.

Dabei macht gerade Boltanski Bücher für den täglichen Gebrauch und keine Pretiosa, die bei geringster Berührung und beim leisesten Lichtstrahl zu Staub verfallen. „Er läßt sie im Gegenteil immer wieder nachdrucken und verhindert so, daß die Bücher zum Spekulationsobjekt werden“ – das hätten die Museumsleute in ihrem eigenen Katalog lesen können. tw

Christian Boltanski: „Inventar aller Bücher“, 31.3. bis 30.6., Neues Museum Weserburg (Teerhof 20); Eröffnung: Sonntag, 31.3., 11.30 Uhr

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