Durchs wahre Mallorca

Bergwandern auf der Baleareninsel ist längst nicht mehr das große exotische Vergnügen, aber die Mallorquiner sehen es nicht gern  ■ Von Thomas Richter

Putzfraueninsel. Je beliebter Mallorca als Ferienziel wurde, desto schlechter wurde das Image der Baleareninsel, die, auch wenn dies mancher anders sehen möchte, zu Spanien gehört. Und das felsenfest. Und wer Mallorca lediglich über den Rand des Pilsglases bei Ballermann betrachtet, der erkennt nur eine Landschaftsform hinter dem Bierdeckel: Strände mit vielen Sonnenschirmen, Straßen, vierspurig mit vielen Cabrios, und dahinter Hotels mit vielen Stockwerken.

Aber der Mallorquiner lächelt. Er hat gut lachen, ist doch der Tourismus die stets sprudelnde Einnahmequelle seiner Insel. Die vom Festland müssen ihm, wenn der Sommer lang und dürr ist, Wasserschiffe herüberschicken, soviel Fremde wollen hier duschen. In deutscher Hand? Der Mallorquiner lächelt wieder. Denn schon frühzeitig hat man dafür gesorgt, daß hier auf Mallorca der Tourismus organisatorisch zusammengepfercht wurde. Und kaum ist man aus den Ballermann-Zentren heraus, da umgibt einen das Mallorca, das sich von allen Seiten fotografieren läßt, so stolz und schön ist es.

Wandern auf Mallorca. Das Lächeln des Mallorquiner bekommt einen Schatten. Denn die fürchtet er vielmehr, die Vorboten, die Naturbegeisterten. Dieses Mallorca, das könnte man zerstören, das will er schützen. Er freut sich natürlich, daß die Zahl derer, die die Schönheit zu schätzen wissen, so groß wird. Aber nicht zu groß. Massenanstürme auf die Gipfel im Westen werden bereits mit Fußangeln verhindert: Hunde, die nicht nur bellen, mit Toren, deren Schlösser frisch geölt sind.

Eine Vorsichtsmaßnahme, meint der Mallorquiner jetzt einlenkend. „Weißt du, viele wollten auch noch am Wander- und Sporttourismus verdienen, es ließ sich so gut an. Aber dann kamen auf einmal alle möglichen Veranstalter, und plötzlich wimmelte es auf den Straßen von Mountainbikern, kamen Horden von Trikot- und Helmträgern in unsere Dorfschenken und machten die Leute ganz verrückt mit ihrem Bewegungswahn.“

Und die Wanderer, die Bergsteiger? „Ach ja, die meisten sind total okay, wenn sie sich nur daran gewöhnen könnten, daß wir unsere Berge selber verwalten.“

Mallorcas Berge sind, wenn man Maßstäbe aus den Zentralalpen anlegt, nicht sehr viel mehr als bessere Hügel. Meint man auf den ersten Blick. Die erste Erfahrung ist, daß man manchen Berg vom Meeresspiegel aus ersteigen muß. Der nächste Irrtum: Auf der sonnigen Ferieninsel kann es hundsgemein schattig sein auf tausend Metern. Und Spanier sind eigentlich motorisierte Menschen. Die wenigen, die in die Berge gehen, tun dies aus beruflichen Gründen, als Hirten oder – aus Buße.

Die Klöster in den luftigen Höhen der Insel mit ihren Oliven- und Mandelbäumen, sie waren das ursprüngliche Ziel der Pilger, die sich schweißtreibend zur Buße nach oben begaben, näher, mein Gott zu dir ... Man kann es verstehen, wenn der Mallorquiner darüber lächelt, daß man heutzutage etwas Vergnügen und Genußtour nennt, was doch ursprünglich als Strafe gedacht war. Aber wieder lenkt er ein: „Hier, die Paßstraße bei Orient, das ist die Trainingsstraße von Miguel Induráin, der fährt mit dem Rennrad so schnell den Berg rauf wie du und ich hinunter.“

Der größte und vielleicht auch der schönste, das ist der Puig Major. 1.436 Meter über Ballermann. Das genügt, mehr gibt's nicht, das Militär hat auf dem Gipfel Platz genommen, damit die Generäle nicht den Überblick verlieren, schade drum.

Gut, dann bleibt aber immer noch eine ganze Kette von Edelsteinen: Vom Nordosten zieht sich zum Südwesten an der Küstenlinie ein malerischer Gebirgszug, Sierra de Alfabia genannt, mit lang auslaufenden Buchten zum Meer hin. Vergessen sind hier die Sandstrände im Süden. Die Insel im Westen ist ein Kaleidoskop kleiner und größerer Naturzauberei. Schluchten und sanfter Täler, Terrassen mit Olivenhainen und Aleppokiefern, Mandel- und Feigenbäumen, tiefes Grün, welches nach oben übergeht in ein markantes Felsenszenario. Wie unendliche Tatzelwürmer schlängeln sich Paßstraßen mühsam durch die schier ungewegsame Bergwelt, hier verliert sich jeglicher Gedanke an Sonnenbad und Liegestuhl. Hier braucht man Herz und Lunge, eine Wasserflasche und Schmalz in den Waden, hier auf dem Teix, dem L'Ofre oder dem Puig Masanella, auf den Gipfeln über den malerischen Städten und Ortschaften der Westküste; das legendäre Valdemossa, die schmucke Stadt Soller mit dem unvergleichlich schönen Hafen, der aus großer Höhe von ganzen Völkerscharen bestaunt wird, die hier mit dem Bus herauffahren zu den ausgebauten Aussichtspunkten. Denn abseits der Straßen zu wandern, das ist auf den ersten Blick nicht so selbstverständlich auf Mallorca. Sehr viele Wege, die nach oben führen, liegen auf Privatgrund.

Viele Bauern dulden die Bergwanderer, doch in den vergangenen Jahren kam mit dem wachsenden Strom der Wanderfalken auch manche diebische Elster. Und nicht nur das Obst von den Bäumen schien für einige Allgemeingut zu sein, auch Unachtsamkeit führte zu Verärgerung, Gatter wurden von den Wanderern nicht wieder geschlossen, Vieh konnte entkommen und mußte mühsam wieder eingefangen werden. Mit den Massen der Naturliebhaber stiegen auch die Klagen, und darob sank die Freude über die naturliebenden Besucher.

So kommt's, daß mancher Landbesitzer nur zögernd und nur an gut bekannte Wanderveranstalter den Schlüssel zum Berg freigibt, damit das Wandern Müller Lieschens Lust werde.

Eine dieser Routen, die man nur über ein Grundstück erreicht, welches zu einem Landgut oder eine Finca gehört, ist die Tour auf den L'Ofre, einen stattlichen Tausender. Ein Autobus schnauft kurzatmig in dreiviertel Stunden die Serpentinen der C 710 vom Hafen Puerto de Soller hinauf zur Haltestelle am Stausee Cuber. Nach einigen Tunnels baut sich vor uns der Puig Major auf, dessen Gipfel gesprengt wurde, damit auf seiner Spitze eine Radarstation errichtet werden konnte.

Uniformierte grüßen matt zurück, als ihnen einige aus dem Bus zuwinken: Es ist sicher schöner, auf Berge zu steigen, als diese bewachen zu müssen. Und vor wem? Am Stausee heißt es aussteigen und den Buckel mit dem Rucksack satteln. Doch schon ist da die Realität: ein verschlossenes Tor.

Wer sich nicht mit dem Besitzer arrangiert hat, einige Veranstalter haben einen Vertrag und damit einen Schlüssel, für den bleibt einer der schönsten Wanderwege Mallorcas ein unerfüllter Traum. Wer aber Einlaß findet, der kann auch ermessen, daß es mehr als einen Grund gibt, dieses Paradies zu schützen. Beinahe ohne Markierung geht es erst abseits des erkennbaren Wege zu einer Quelle, an der die Wasserflasche gefüllt wird, so sie es braucht. Jetzt kommt es darauf an, was das Wetter uns sehen läßt, denn hier oben, da werden die Wolken vom militärisch bewachten Nachbarn und großen Bruder oft gestoppt, und damit ist der Gipfel des L'Ofre in Watte gehüllt, die bestenfalls durch einen kräftigen Windstoß zerzaust werden kann.

Ist es aber wolkenlos, dann wird der Schweiß, den wir bis auf die Aussichtshöhe von 922 Metern gespendet haben, belohnt durch einen berauschenden Blick hinunter auf das Städtchen Soller im sogenannten Orangental. Zum Gipfel geleiten uns einige wenige Steinmännchen. Mallorquiner lieben weder Markierungen noch Hinweistafeln, und wer zum Gipfel will, der sollte auch das mit dem Grundbesitzer vorher geregelt haben, er ist da empfindlich, na, ja – ist schließlich sein Grund und Boden. Trotzdem hört man bei manchem deutschen Wanderer auch Befremden heraus, wir sind es nicht gewöhnt, daß etwa der Watzmanngipfel in Privatbesitz wäre und damit nicht mehr öffentlich zugänglich. Doch auch wenn der Gipfel unfreiwillig geschmäht wird, bald wollen wir die Felsregion um den Gipfel verlassen, in der, nebenbei bemerkt, zumeist ein empfindlich kühles Lüfterl weht, welches man einer Mittelmeerinsel gar nicht zutrauen möchte. Zwischen Felsen und Kiefern Richtung Soller führt uns ein abwechslungsreicher Wanderweg in tausend Serpentinen nach unten. Vorbei am Landgut L'Ofre, einer malerischen Siedlung inmitten der Bergidylle, windet sich der Abstieg durch den wildromantischen Barranc de Biniareix. Schroffe, zerklüftete Felsformationen, steil abfallende Schluchten, und im flacheren Abschluß geht die Tour in Orangenplantagen über, bevor man über ein Stück Asphaltstraße erst das Dorf Biniareix und später Fornalutx erreicht. Es ist ja nur eine Frage des Willens, wie lange man dem Körper dann noch vorenthalten will, was die mallorquinische Küche zu bieten hat. Doch Vorsicht: Wer etwa als Vorspeise eine mallorquinische Brotsuppe bestellen will, der wird sich wundern: Wenn es etwas gibt, was wirklich pappsatt macht, dann dieser nahrhaft würzige Broteintopf, der vielleicht nur Suppe heißt, damit die Fremden große Augen machen.

Bergwandern auf der Baleareninsel. Noch vor wenigen Jahren war dies die große exotische und zum Teil von Einheimischen belächelte Ausnahme.

Nachdruck aus: „Alpin, Das Bergweltmagazin, April 96“. Olympia- Verlag, 8 Mark