Wildwest an der Neiße

■ Ein BGS-Zivilfahnder verletzte polnischen Grenzgänger - angeblich lösten sich die Schüsse von selbst. Der Staatsanwalt ermittelt zwar, meint aber jetzt schon, der Schütze solle nicht angeklagt werden

Berlin (taz) – „Es sah nach einem Überfall aus. Da kam ein Wagen angerast, der nicht besonders gekennzeichnet war. Dann fielen Schüsse“, sagt Henryk Grzeda. Er habe an Gangster geglaubt und sei in Panik davongerannt, allein. Die anderen, mit denen er am Waldrand eine Zigarette geraucht hatte, liefen in eine andere Richtung. Er habe sich immer wieder umgedreht, um zu sehen, wer ihm hinterherläuft. Doch außer dem Schein von Taschenlampen zwischen den Bäumen habe er nichts erkennen können, sei plötzlich ins Stolpern geraten. „Irgend jemand ist über mich gefallen. Dann habe ich versucht aufzustehen. Ich hatte auf die Flucht bereits verzichtet, als ich eine ruckartige Bewegung fühlte und mich jemand nach hinten zog. Im selben Augenblick fiel der Schuß.“

Der Schütze war kein Gangster, sondern ein Zivilfahnder des Bundesgrenzschutzes, der in der Nacht zum 29. Februar mit einem Kollegen südlich von Guben an der Neiße Streife fuhr. Der zuständige Oberstaatsanwalt in Cottbus, Christoph Otto, stellt das Geschehen so dar: Die Beamten hätten einige hundert Meter hinter dem Bahnhof Kerkwitz an einer Landstraße leere Plastiktaschen entdeckt und wenig später in einem grenznahen Wald eine etwa zehnköpfige Gruppe. Für die Fahnder sei damit klar gewesen, Zigarettenschmuggler vor sich zu haben. Wer sonst sollte sich zu dieser nächtlichen Stunde in der Nähe der Grenze aufhalten? Deshalb hätten die Beamten die Personalien der Gruppe überprüfen wollen. Nach dem Ruf „Halt, Bundesgrenzschutz!“ habe einer von ihnen zwei Warnschüsse in die Luft abgegeben, weil die Verdächtigen Richtung Neiße geflohen seien. Die Grenzschützer nahmen die Verfolgung eines Flüchtenden auf, der aber eine andere Richtung eingeschlagen hatte.

Dann fielen zwei weitere Schüsse. Ob der Grenzschützer gezielt auf Henryk Grzeda schoß, ist unklar. Fest steht nur, daß er insgesamt viermal abdrückte. Die Staatsanwaltschaft Cottbus ermittelt deshalb gegen den 24jährigen Grenzer wegen Körperverletzung im Amt. Staatsanwalt Otto geht davon aus, daß sich der dritte Schuß löste, „als der verfolgende Beamte durch das Unterholz gestolpert ist, und der nächste, als die Festnahme erfolgte. Bei dieser Gelegenheit sind Verfolger und Verfolgter auf den Waldboden gefallen. Dabei hat sich der Schuß gelöst.“

Henryk Grzeda, der in Sazarzewice auf der polnischen Seite der Neiße zu Hause ist, hatte Glück und kam mit einem Schulterdurchschuß davon. Die Verletzung war allerdings so schwer, daß er in Guben operiert werden mußte. Das sei ein Unfall gewesen, beteuert Klaus Müller, Sprecher beim Grenzschutzamt Frankfurt (Oder). Zum konkreten Tathergang will er sich allerdings nicht äußern. Offen bleibt vor allem, warum der Beamte überhaupt die Pistole zog und insgesamt viermal schoß. Schließlich dürfen Zivilfahnder des BGS die Dienstwaffe nur zur Selbstverteidigung gebrauchen. Selbst Warnschüsse in die Luft, sogenannte Signalschüsse, erlaubt die Dienstvorschrift – wegen der Gefahr der Verwechslung – im Grenzdienst nur, wenn die Beamten „entweder selbst Dienstbekleidung tragen oder erkennbar mit einem Vollzugsbeamten in Dienstkleidung zusammenwirken“.

Der Cottbusser Staatsanwalt will trotz des Verstoßes gegen diese Vorschrift „hier kein Dienstvergehen erkennen“. Wenn der Schütze „zum Beispiel sagt, er hat die (Waffe) gar nicht gebrauchen wollen, er hat sie in der Hand gehabt und sie ist halt losgegangen, unabsichtlich, dann ist das ja kein Gebrauch in dem Sinne.“ Und: „Wenn diese Vorschrift auch die beiden Warnschüsse schon verhindern will, dann ist es eine völlig übertriebene, schlechte Dienstvorschrift. Dann soll man den beiden Kerlen keine Waffe in die Hand geben. Was sollen die denn damit?“ Dem Beamten würde er deshalb „nicht unbedingt einen strafrechtlichen Strick drehen wollen“, lautet Ottos Plädoyer.

So kann auch der Sprecher des Frankfurter Grenzschutzamts, Müller, mit der Vorschrift gut leben. Kein Wunder, kamen Grenzschützer und Zöllner bisher jedesmal glimpflich davon, wenn sie die Verhältnismäßigkeit der Mittel aus den Augen verloren und auf harmlose Grenzgänger feuerten. So blieb der Zwischenfall vom Mai 1994, bei dem zwei deutsche Zollfahnder bei Forst einen VW-Bus beschossen und die Insassen mißhandelt hatten, genauso konsequenzlos wie der vom April vergangenen Jahres. Damals hatten zwei maskierte und mit Overalls bekleidete Grenzschützer in der Nähe von Frankfurt (Oder) gezielt auf einen Personenwagen geschossen. Die Insassen der beiden Fahrzeuge, die aus Angst vor den Bewaffneten in Zivil die Flucht ergriffen, hatten mehr Glück als der vermeintliche Zigarettenschmuggler Henryk Grzeda, der in die Schulter getroffen wurde. Den Beweis für ihren Verdacht blieben die Fahner allerdings auch damals schuldig.

„Wir vermuten, daß diese Fälle nur die Spitze eines Eisbergs sind, schließlich gibt es dafür nur selten Zeugen“, meint Helmut Dietrich von der Berliner „Forschungsgesellschaft Flucht und Migration“, die diese Vorfälle recherchiert und dokumentiert. Darüber hinaus setze der BGS alles daran, Mißhandlungen und Übergriffe auf Grenzgänger zu vertuschen. Martin Rapp