Die Frage lautet: Wird oder ist frau lesbisch?

■ Viola Roggenkamp schrieb ein Buch über die Mütter lesbischer Frauen und das Entstehen sexueller Identität

Die elfjährige Ingrid steht am Gartenzaun. Sommer 1946. Sie beobachtet die Polen am See, Männer und Frauen. Die sind nackt und machen „Schweinkram“. Als Ingrid Anfang 20 ist, bekommt sie – unverheiratet – ein Kind. Heike. Mit ihrem Ehemann wird Ingrid später noch zwei Mädchen in die Welt setzen, bis „endlich“ ein Junge kommt. Ingrid weiß, daß Heike vom Stiefvater mißbraucht wird.

Daß Heike heute lesbisch ist, hält Viola Roggenkamp für eine Folge dieser Folter. Denn – so formuliert und argumentiert die Hamburger Journalistin in ihrem Buch Von mir soll sie das haben? immer wieder – Frauen sind nicht einfach nur so lesbisch, sie sind lesbisch geworden! Die Eingangsfrage im Vorwort lautet deshalb: „Warum wird eine Tochter lesbisch?“. Den Versuch, Zusammenhänge zwischen Kindheitserfahrung und sexueller Identität aufzuzeigen, unternimmt sie anhand von Sieben Porträts von Müttern lesbischer Töchter.

Roggenkamp nutzt mehrstündige Gespräche und Beobachtungen als Grundlagen ihrer Texte, aber für die Darstellung bedient sie sich darüber hinaus aller Kunstgriffe der Reportage und der Dokumentation: Sie hält dem Leser den Telefonhörer ans Ohr, nimmt ihn mit auf die Fahrt zur Interviewpartnerin, sie gibt Gespräche mal im Frage-Antwort-Stil, mal als erzählte Geschichte wieder. Schnitt – Zoom – wie im Film. Das Buch lebt!

Die Mütter, mit denen Roggenkamp spricht, sind sehr verschieden. Sie leben im Osten, Westen oder in der Schweiz, sind praktizierende Christinnen oder jüdische Auschwitz-Überlebende. Eine ist arrogant, eine geschwätzig, eine andere will überhaupt nicht reden. Ihr Alter reicht von Ende 40 bis Mitte 70. Die Interviewerin stellt ihnen ausgefeilte Fragen, häufig auch erstaunliche. Die eigene Persönlichkeit der Mütter wird thematisiert, ihr Sexualleben, und dann geht es plötzlich um Frühstücks-Gewohnheiten. Sogar provokant ist Roggenkamp, macht Müttern Vorwürfe. Trotzdem findet sie oberflächlich gesehen nur einen gemeinsamen Nenner: Alle Töchter hatten schwierige Verhältnisse zum Vater. Was bekanntlich nicht lesbisch macht.

Grund genug für Leser, selbst aktiv zu werden, zu grübeln und zu diskutieren, was das nun alles bedeute. Doch die Autorin mischt sich auch hier ein. Sie hat das Buch ihrer Psychoanalytikerin gewidmet und will gleichfalls analysieren. Deshalb das Nachwort, wo sie Thesen zum Lesbisch-Werden aufstellt. Ihren Texten nimmt sie damit etwas vom Zauber der Tiefgründigkeit, der Anregung. Aber nicht um Zauber geht es Roggenkamp, sondern um Lesben-Problematik.

„Sie ist nun erst recht eine Frau“, sagt eine Mutter über ihre Tochter. Auch dieses Zitat hätte einen guten Titel abgegeben. Aber nein, es sollen Mißstände aufgedeckt und erklärt werden. Das mag auch der Grund sein, warum in allen Gesprächen offensichtlich nie herzlich gelacht wird. Nun gut, Viola Roggenkamp will nicht unterhalten. Trotzdem liefert sie Erzählkunst und eher Anstoß als Wissen – egal, ob gewollt oder ungewollt.

Nele-Marie Brüdgam

Viola Roggenkamp, „Von mir soll sie das haben?“, Verlag Krug & Schadenberg, 197 S., 34 Mark