Bilder, die betroffen machen

■ Eine mittelalterliche Bruderschaft organisiert Frankreichs größte Prozession

In die dumpfen Schläge vom Kirchturm mischt sich der helle Klang einer Totenglocke. Es ist die gleiche Stunde, in der nach christlichem Verständnis Jesus seinen Leidensweg begann. Punkt drei Uhr mittags verstummen die Menschen, die in dichten Reihen vor der Jakobskirche und den umliegenden Straßen stehen. Viele tausend sind es, Katalanen zumeist, Angehörige der spanischen Minderheit im Süden Frankreichs.

Karfreitag in Perpignan ist eine Demonstration südländischer Volksfrömmigkeit. Kein fröhliches Fest, wie die großen Karprozessionen Spaniens, eher ein Trauerzug, der seit über vier Jahrzehnten in immer gleicher Ordnung unterwegs ist. Männer in roten, grauen und schwarzen Kapuzen, die Hüften mit einem Strick umgürtet, tragen die blumenbekränzten Darstellungen der Leidensgeschichte. Das Gebet am Ölberg, der Verrat durch Judas, die Gefangennahme, die Verleugnung durch Petrus, die Verspottung durch die römischen Soldaten – Stationen auf dem Weg nach Golgatha, präsentiert von einer Bruderschaft, die im Oktober des Jahres 1416 von spanischen Dominikanern gegründet wurde. Diese „Bruderschaft vom kostbaren Blut unseres Herrn Jesus Christus“ hatte einst zum Tode verurteilte Menschen auf ihrem letzten Weg zum Galgen begleitet. Damit erklären manche Volkskundler auch die Kostüme der Prozessionsteilnehmer, die an mittelalterliche Henker erinnern.

Ende des 18. Jahrhunderts waren die Umzüge in Perpignan von der Kirche verboten. Im Barock waren sie in blutige Spektakel ausgeartet, in deren Verlauf sich viele hundert Büßer geißelten. Zwar wurde die Prozession schon wenig später wieder erlaubt, öffentliche Resonanz aber fand sie kaum noch. Das änderte sich erst im Jahr 1950, als die Bruderschaft die historischen Requisiten wieder hervorholte und einen größeren Umzug organisierte.

Damit wurden die Bilder von einst zu neuem Leben erweckt: die von Schmerzen gezeichnete Gottesmutter und der leidende Christus – Darstellungen, die betroffen machen, kein Wallfahrtskitsch, sondern Zeugnisse tiefster Volksfrömmigkeit. Im Mittelpunkt steht der „Devot Christ“ – eine gotische, in Deutschland geschnitzte Christusfigur. Jeden Karfreitag, erzählt die Legende, neigt sie ihr Haupt etwas tiefer. Wenn der Kopf die Brust berühre, sei das Ende der Welt gekommen.

Für die Bürger Perpignans, vor allem die Bewohner der Altstadt, ist die Prozession ein Stück ihres Lebens. Denn die Lieder und Gebete, die während des Trauermarsches zu hören sind, haben lange Tradition. Sie sind Ausdruck der Schwermut, zu der die Katalanen neigen sollen. Kein Wunder, daß sich in den Klang der Totenglocke von Sankt Jakob auch immer wieder laute Schreie mischen, mit denen die Gläubigen am Straßenrand um die Vergebung ihrer Sünden bitten. Günter Schenk