Schönaus Marmeladen-Sieg

Das Schwarzwald-Örtchen funktioniert bald ganz ohne Atomenergie – aber die Bewohner sind im Kern gespalten. Schönau steht unter Hochspannung  ■ Von Thorsten Schmitz

Die Versuchung ist groß, doch Helene Ruch gibt ihr nicht nach. Einen Spaziergang zum Rathausplatz am Abend des 10. März verbittet sie sich. Lieber sitzt sie zu Hause am Küchentisch und trinkt Tee, der Abwasch ist schon gemacht. In ihrer Vorstellung sieht Frau Ruch, 75, die Gewinner des Bürgerentscheids johlen und die Arme hochreißen. Den Triumph der Kernkraftfans muß sie nicht auch noch live mitkriegen.

Lang läßt sie das Telefon klingeln, wer mag das sein? Die beste Freundin, atemlos: „Komm zum Rathausplatz, Helene, wir haben gewonnen!“ So steht am Abend des 10. März Helene Ruch doch noch vorm Rathaus – und schwenkt eine Wunderkerze.

Sie haben gesiegt, endlich. Aber um welchen Preis. Schönau ist erfolgreich missioniert, zehn Jahre sind eine lange Zeit für ein 2.500-Seelen-Örtchen, in dem die Abende lang und die „Tagesschauen“ kurz sind. Bald sind Schönaus Steckdosen atomkraftfrei – doch dörfliche Disharmonie trübt den Erfolg. Der Sieg schmeckt schal.

Plätzchen gibt es und Salzstangen, roten Wein und weißen, Apfelsaft und ein Rauchverbot: Am Wohnzimmertisch der Familie Sladek ziehen Frau Ruch, ein Abiturient und 20 andere Atomkraftverächter Resümee. In einer Ernsthaftigkeit, als hätte sie der Erfolg geknickt. So sehen Sieger selten aus, und deshalb hat das Fernsehteam der Deutschen Welle Mühe, den Erfolg in Bilder zu fassen.

Anfang März votierten 52,4 Prozent der Schönauer dafür, die Konzession für ihr Stromnetz nicht mehr an die Kraftübertragungswerke Rheinfelden (KWR) zu vergeben, sondern an das Elektrizitätswerk Schönau (EWS), dem Unternehmen der Bürgerinitiative Netzkauf. Weltabgewandt, inmitten sanft geschwungener Hochschwarzwaldhügel südlich von Freiburg, läuft in Zukunft der Strom abwärts – bundesweit zum ersten Mal kaufen Bürger ihr Stromnetz und speisen Laternen und Waschmaschinen mit ökologisch korrekter Energie. Wenn da nicht die 48 Prozent wären, die bei KWR bleiben wollen.

Netzkauf-Häuptling Michael Sladek läßt erst gar keine Freude aufkommen unterm Kronleuchter. Der Arzt und Atomausstiegsanstifter verlangt Berichte von der Verliererfront: „Wie ist die Stimmung?“ Was er zu hören bekommt, klingt gar nicht gut.

Der Friseur hatte sich nicht getraut, ein EWS-Plakat an die Ladentür zu kleben – und trotzdem meiden ihn die Stammkunden. Der Pizzeriabesitzer bereut die Verköstigung der Netzkauf-Mitglieder mit Pasta und Pizza: Zum Mittagessen treffen sich die ortsansässigen Geschäftsleute nun im Hotel-Restaurant um die Ecke, den Italiener boykottieren sie.

Der Riß durchs Dorf spaltet auch Verwandtschaften. Helene Ruch erzählt von ihrem Cousin, der ihr 20 Mark schuldete – und ihr das Geld im Brief zurückschickte. Ohne Worte, weil sie bei Netzkauf mitmacht. So was haben Michael Sladek und seine Frau Ursula, die schon jetzt über ein Blockheizkraftwerk im Keller und schon immer über viel Ausdauer im Kämpfen verfügen, nie gewollt. Vor dem Bürgerentscheid hielten ihnen die alteingesessenen Gegner oft genug vor, sie seien Zugereiste. Ortsfremde Ideologen, die sich den Luxus Landleben leisteten. Viel lieber hätten Sladeks über echte Argumente diskutiert.

Überhaupt spielte im Kampf um die Stimmen die Gnade des richtigen Geburtsorts die wichtigste Rolle: Die Alteingesessenen sahen sich einer Phalanx besserwissender Neu-Schönauer gegenüber – und ihre Macht schwinden. Da konnten die Atomkraftgegner noch so oft Bilder von Tschernobyl-Opfern zeigen: Mit ihnen gehe das Licht aus, unterstellten ihnen die Dorf-Patrioten.

Noch nie war die Stimmung so schlecht, sagt Bürgermeister Bernhard Seger (CDU). Dagmar Zuckschwerdt nagt noch an der Wahlkampf-Atmosphäre: „Manche Schönauer waren so hämisch und denunziatorisch, so stelle ich mir das Dritte Reich vor.“ Dem Sparkassendirektor und Netzkauf-Mitglied Meier, auf dessen Garage Solarzellen das Abwaschwasser wärmen, drohten Kunden mit Auflösung ihrer Konten.

Die Sieger wollen auch die Verlierer an ihrem Erfolg teilhaben lassen. Und so fragt Michael Sladek: „Wie können wir Frieden herstellen in Schönau?“ „Die müssen sich an ihre Niederlage gewöhnen“, schlägt einer vor. Kollektives Nicken unterm Kronleuchter.

Die Bürgerinitiative darf der KWR das Stromnetz abkaufen – samt Leitungen, Masten und Schaltstationen. Nur der Preis ist umstritten. 8,7 Millionen Mark will die KWR haben, Netzkauf höchstens 4 Millionen bezahlen. Weil KWR sich aber „fühlt wie jemand, den man enteignet hat“, geht sie keinen Pfennig runter.

Wie mal eben weitere 4,7 Millionen Mark zusammensammeln, das ist Thema in Sladeks Wohnzimmer. Die Suche nach Geld verdrängt die Suche nach Frieden im Dorf. Sowieso, findet Michael Sladek, „ist die Aussöhnung nicht mehr das Wichtigste, die Entscheidung ist gefallen“.

Viel zu früh für Hermann-Josef Ganzmann. Im Grunde genommen ist er ein Grüner, wie alle KWR-Fans im Grunde genommen grün sind in ihrem Herzen. Aber Atomstromgewohnte wie Ganzmann sehen die Zeit noch nicht reif für Wasser- und Blockheizkraftwerke: „Was machen Sie, wenn der Motor des Blockheizkraftwerks an Heiligabend ausfällt – und draußen sind es minus 20 Grad?“ Ganzmann hat einen unerschütterlichen Glauben an den Strom aus der Steckdose entwickelt – qua Geburt. Er lebt im Schönauer Elektrizitätswerk, in dem er geboren wurde und als Starkstromelektriker gearbeitet hat, bis es 1974 von der KWR gekauft und geschlossen wurde.

Bis Jahresende arbeitet Ganzmann noch – bei der KWR im Nachbarort. Seine Loyalität zum Arbeitgeber verpflichtet ihn geradezu, die Netzkauf-Leute für die „schlechte Stimmung“ im Dorf verantwortlich zu machen. Aber er ist auch gewiß, daß „wir noch nicht raus können aus der Atomenergie“. Daß Strombedarf keine gottgegebene Sache ist, auf die Idee kommt Ganzmann nicht.

So wie Ganzmann wartet auch Albert Hitz auf eine Art Urknall, bei dem Atomstrom auf einen Schlag verschwindet. Hitz ist Vorsitzender der SPD-Fraktion und stellvertretender Bürgermeister. Er ließ seine Parteikollegen im Stich und stimmte für KWR. Warum, das ließ er Schönau auf bananengelben Flugblättern wissen: „Was ich von meinen Eltern gelernt habe: Schuster bleib bei deinen Leisten.“ Hitz hat gar nichts gegen KWR-Strom und sehr viel gegen die „Laien“ von Netzkauf, „die alles nur teurer und unsicher machen würden“. Genausogut könnte Hitz als Pressesprecher der KWR bunte Wortwolle stricken: Strom bedeute Zukunft und Fortschritt, diktiert er jedem Journalisten in den Block, Blockheizkraftwerke seien „die reinsten Dreckschleudern“. 150 davon in einem Luftkurort: „Atmen Sie mal tief durch.“

Schon vorsorglich droht der größte Arbeitgeber am Ort, die Kunststoffabrik Frisetta, ins Elsaß abzuwandern. Wenn das Netzwerk-Unternehmen EWS erst mal den Strom liefere, sei der nicht mehr bezahlbar. Frisetta mag nicht das „Versuchskaninchen“ spielen. Im Wahlkampf verteilten Angestellte Frisetta-Zahnbürsten, die in ein Flugblatt eingewickelt waren: „Ja zu Schönau, damit unsere Stadt wieder Ruhe findet.“

Daß man als Unternehmer liebgewordene Gewohnheiten ändern kann, beweist Thomas Faller. Der Geschäftsführer der ortsansässigen Marmeladenfabrik kann auch ohne Atom. Im Wahlkampf drückte Michael Sladek jedem Schönauer Sauerkirschkonfitüre aus dem Hause Faller in die Hand – auf der Banderole stand ein großes „NEIN zu KWR“. So wurde den Schönauern schon am Frühstückstisch das Kreuz an der richtigen Stelle aufs Brot geschmiert.

Die Marmelade war der bessere Wahlkampfgag.

Außerdem konnte Michael Sladek viele Schönauer für sich gewinnen, weil er umsonst Volksmusikabende und Rockkonzerte organisierte. Und weil er sowieso hilft: In seiner Praxis klärte er die Patienten über das Risiko von Plutonium auf. Der 10. März, der Tag des Bürgerentscheids, war für Michael Sladek „Leben oder Nichtleben“.

Sladek hat große Angst, als „grüner Spinner“ abgestempelt zu werden. So wird er nicht müde, auf allen Veranstaltungen und im Gemeinderat als Mitglied der Freien Wähler (die Positionen einnehmen, die anderswo die Grünen für sich reklamieren) zu betonen: Nicht aus ideologischen Gründen hält er nichts von Atomstrom, sondern aus medizinischen. In den letzten zwei Jahren, berichtet Sladek, erkrankten mehr Schönauer als üblich an Krebs. „Das fällt doch nicht vom Himmel!“ Sowieso habe niemand das Recht, „die Schöpfung umzubringen.“

Genausowenig hat die KWR das Recht, den Preis für das Stromnetz auf 8,7 Millionen Mark zu taxieren – Zorn im Wohnzimmer der Sladeks. Trotzdem sind die Netzkauf-Leute bereit, mit dem Geld „das Maul der KWR zu stopfen“. Wenn sie es denn hätten. Nach zehn Jahren Juristerei und Kampf „mit heißem Herzen“ haben sie keine Lust mehr, nun auch noch jahrelang vor Gericht zu feilschen. Lieber jetzt zahlen, das Stromnetz in eigener Regie betreiben – und dann wegen Wucherei klagen.

Harro Thäsler ist verzweifelt. So kurz vorm Ziel, klagt der Lehrer, „dürfen wir nicht aufgeben“. Thäsler, der über die Jahre ein „erotisches Verhältnis“ zu seinem Stromzähler entwickelt hat und ihn nachts mit Kerze inspiziert, verrät eine Binsenweisheit: „Ohne Lockmittel funktioniert gar nichts.“ Wer spenden soll, der müsse auch was dafür kriegen. „Eine Tschernobyl-Glückslotterie wäre günstig.“ Zu gewinnen gäbe es dann zwei Wochen Schönau – in der Ferienwohnung von Helene Ruch.

Britta Steilmann, die grüne Unternehmerin, soll um eine Spende angeschrieben werden, mit dem Umweltredakteur der Neuen Revue habe man Kontakt aufgenommen, und wie, nur wie, könnte es Michael Sladek in eine Talkshow schaffen? Alle sollen über Netzkauf schreiben – bis die vier Millionen zusammen sind.

Und Michael Sladek seinen Lieblingstraum erfüllen kann, den er jede Nacht träumt: Er stürmt in das Vorstandszimmer der KWR, knallt seinen schwarzen Koffer auf den Tisch des Atommanagers, der öffnet sich und der Inhalt fällt raus – 8,7 Millionen Mark in 1.000-Mark-Scheinen.