Jung und schon echt steinalt

„Mit 25 ist der Zug doch abgefahren.“ Sandra N. ist 24 Jahre jung und fühlt sich steinalt. Neulich, als ein Freund sie vom Thai-Boxen nach Hause fuhr, haben sie darüber gesprochen. „Wer mit 25 keine Lehre macht, der kriegt auch keine mehr.“ Da hat sie kräftig geschluckt und ist ins Grübeln gekommen. Der Satz klingelt ihr heute noch in den Ohren.

Sandra ist reizend, wirklich sehr reizend und lebt mit einem Dutzend anderer junger Menschen in einem besetzten Haus in Berlin- Friedrichshain. Wer gerade Geld hat, geht einkaufen, bestellt Kohlen oder bezahlt die Telefonrechnung. Vom Sozialamt holt sie sich 600 Mark im Monat, 700 verdient sie als Köchin schwarz dazu. Sandra gehört zu einer Generation, der die Kraft aus den Augen leuchtet. Doch ihre Power stand ihr immer nur im Weg.

Als Fremdssprachensekretärin wollte sie arbeiten. Vor fünf Jahren, das Abi hatte sie gerade geschmissen, hat sie einen Versuch unternommen. Erst mal Maschinenschreiben lernen. Hat widerspruchslos immer „Jaffa-Jaffa- Jaffa“ getippt, ohne hinzugucken. „DIN-A-4-Seiten voll haben wir das doof wie Schafe im Rhythmus vor uns hingeschrieben. Die ganze Zeit stand die Lehrerin hinter uns und hat unseren Kopf mit einem Zeigestab angehoben, damit wir ja nicht auf die Tasten gucken.“ Als dann der Klassenlehrer ihre löchrige Jeans rügte: „Auch dich werden wir noch in ein gewisses Bild drängen!“, da hatte sie die Nase voll. Ist aufgestanden und kam nicht mehr wieder. Fünf Tage dauerte ihre Ausbildung.

„Mir darf keiner sagen, wie ich auszusehen habe.“ Sandra sitzt aufrecht und konzentriert, raucht eine nach der anderen und bietet Kaffee vom Frühstück an. Sie hat ein Faible für Sprachen, redet fließend Italienisch, Spanisch, Französisch, Englisch und ein bißchen Persisch, das ihr der iranische Vater beigebracht hat. Abgerissene Hosen, rote Haare, Metallsticker am Kinn – Zeichen, mit denen sie gegen die Gesellschaft rebelliert. Nur nicht angepaßt werden. Verweigern, um beweglich zu bleiben.

Sie strahlt und erzählt von einer Windmühle irgendwo auf dem Land in Italien, von einer Kommune und Sprachkursen, die sie anbieten will. Der Traum vom unbeschwerten Dasein, alternativen Lebensweisen und Hauptsache alternativ. Sie ist arbeitslos. Hat noch nie legal einen Job gehabt.

„Seit diesem Gespäch im Auto habe ich das Gefühl, mir zerrinnt die Zeit wie Sand zwischen den Fingern.“ Sie fängt an, ihre Vergangenheit in Zeiteinheiten zu rechnen, in denen sie eine Ausbildung hätte abschließen können. Seit drei Jahren kocht sie. Solange dauert die Ausbildung zur Köchin. Wenn sie gefragt wird, was sie ist, antwortet sie seit neuestem: Köchin. „Wenn dann jemand fragt: ,Gelernt?‘, sage ich nö.“ Sandra spricht leise. „Ich fühle mich immer ein bißchen so, als hätte ich was verpennt.“ Logisch. Auch in der alternativen Szene hat Ausbildung einen hohen Stellenwert. Selbst in ihrer autonomen Politgruppe gibt es kaum welche, die durch das Ausbildungsraster gefallen sind. „Auch wenn sie jetzt vom Sozi leben, gibt der Lehrabschluß ihnen eine Sicherheit.“ Sandra will keinen Aufstieg machen, ein Einstieg würde ihr reichen.

Dreimal war sie in der vergangenen Woche beim Berufs- und Informationszentrum des Arbeitsamtes. Hat sich Filme angesehen, über Berufe, die sie interessieren könnten. Stukkateurin. Auf der Leinwand kletterten Männerkolonnen durch riesige Neubauten. Da hat sie sich gefragt, wie das wäre, mit denen Mittagspause zu machen. Bier, Bild-Zeitung und rüde Sprüche über die Frau zu Hause zogen vor ihrem inneren Auge auf. Keine zehn Minuten könnte sie das ertragen. „Bei solchen Typen würde ich nicht lange fackeln, die bekämen gleich eins in die Fresse.“ Sandra weiß, daß sie körperlich werden kann, wenn ihr was fundamental gegen den Strich geht.

Also, keine Stukkateurin werden. Steinmetzin vielleicht. Lernen bei einem kleinen Friedhofsbetrieb, liebevoll die letzten Wünsche für die Toten in den Granitblock meißeln. Sie hat den Computer nach einem Ausbildungsplatz befragt. Fehlanzeige. Die fehlgeschlagenen Besuche bei der Berufsberatung kränken und machen lustlos. „Dagegen hilft viel essen.“

Wer die Niederlagen unverletzt überstehen will, braucht ein solides Selbstbewußtsein. Das trainiert Sandra jetzt systematisch. Zweimal in der Woche zieht sie die roten Schienbeinschoner an und streift blaue Boxhandschuhe über. Wut und Frust haut sie sich beim Thai-Boxen aus dem Leib.

Sie fühlt, daß in ihrer Geschichte irgend etwas unwiderbringlich schiefläuft. Sie weiß auch, daß es ihr nicht allein so geht. Sie will Politik machen. Aber nicht mit viel Diskutieren, Demos und Flugblättern. Das war 1968. „Heute muß Politik lustig sein und irgendwie in die Magengrube gehen.“ Sie zwinkert und steckt sich noch eine an.

Wenn es wärmer wird, wollen sie eine Party feiern. Vor einer Leiharbeitsfirma. „Wir legen uns an Ketten und kaufen uns gegenseitig frei.“ Sklavenversteigerung. Jemand wird einen Verstärker andrehen, und los geht's. Krach aus allen Kanälen. Hauptsache, nicht mehr überhört werden.