■ Ist der Streit um das Ost-Profil der Parteien mehr als eine Kompensation für die nachlassende Zuwendung-Ost?
: Östliche Zumutungen

Solidarität, darüber soll man sich nicht täuschen, ist in Wirklichkeit keine abstrakte Tugend, sondern Ausdruck von Zusammengehörigkeit im wohlverstandenen Eigeninteresse. So funktioniert sie jedenfalls. Selbst auf die Solidarität der Besserverdienenden ist dann Verlaß. Die FDP, die ihnen ab nächstes Jahr durch die Senkung des Solidaritätszuschlages – sagen wir mal ganz bescheiden – mindestens 50 Mark mehr im Monat auf dem Konto beläßt, feiert im Westen der Republik fröhliche Auferstehung. Im Osten auf unabsehbare Zeit untergetaucht, braucht die FDP nicht länger den lästigen Spagat der anderen zu üben. Sie setzte auf Westprofilierung und – darin ihrem Gegenbild PDS nicht unähnlich – gewann.

Das Wahlgeschenk an die FDP ließ sich der Kanzler der Einheit etwas kosten. Einige Ost-Parlamentarier der CDU, die sich nur widerwillig in die Pflicht der westdeutschen Wahlarithmetik nehmen ließen und dem Verzicht für den Osten zustimmten, proben vorsichtig den Aufstand. Noch ist nicht ganz klar, ob sich hinter der Debatte um das Ost-Profil der CDU mehr verbirgt als ein von Wolfgang Schäuble taktisch toleriertes Kompensationsgeschäft für die nachlassende Zuwendung-Ost. Die CDU, die in den meisten ostdeutschen Ländern regiert, macht sich jedenfalls im Osten Gedanken. Der Schweriner CDU-Fraktionschef Rehberg mahnte gar eine „grundsätzliche inhaltliche und organisatorische Erneuerung“ der CDU an. So weit wird es natürlich nicht kommen. Nach einem Treffen mit Generalsekretär Hintze Ende März ließ er nur noch verlauten: „Man nimmt uns nun ernster.“

Die Sozialdemokraten im Osten haben es nur scheinbar leichter. Der Hinweis auf die Fehler des Kanzlers hilft ihnen nicht viel weiter, seitdem die Leute verstehen, daß die Bundesrepublik nicht allein vom Kanzleramt, sondern auch von den Staatskanzleien der mächtigen Länder im Westen mitregiert wird. Ostprofil zu gewinnen, ist nun auch in der SPD angesagt. Von oben sogar, weil die Basis im Osten bisher selbst dazu zu schwach ist. Das dazu ins Leben gerufene „Forum Ostdeutschland“ wird zeigen, ob man auf die immer noch am Rhein residierende Partei Einfluß nehmen kann.

Noch schlechter geht es nur den Ost-Bündnisgrünen. Ihr von manchen erhoffter symbolischer Schritt nach Berlin wurde jüngst kühl abgeschmettert. Längst merken auch die wenigen Ostdeutschen, die sich noch in Bonn behaupten, daß nicht allein Häuptlinge, sondern dahinter vor allem die Indianer zählen. Selbst Fraktionsgeschäftsführer Werner Schulz kommt sich nach eigenen Worten wie „ein abgehängter Ossi“ vor.

Die simple Wahrheit ist: Die Wahlen werden im Westen gewonnen. Dieser durchweg gängige Grundsatz der alten bundesdeutschen Parteien beschreibt zumindest das bleibende statistische Dilemma ihrer Ostverbände. Deren politisches Dilemma sitzt allerdings noch tiefer. Da gibt es nämlich eine Partei im Osten, die sich aus westlicher Sicht einer paradoxen Beliebtheit erfreut: die PDS. Je stärker sie sich im Osten profiliert, um so mehr empfiehlt sie sich im Westen als politischer Kitt. Rechts von der Mitte mobilisiert sie dort den alten antikommunistischen Konsens, links der Mitte dominiert die Unlust, sich schon wieder mit dem Vorwurf der Komplizenschaft mit Kommunisten auseinanderzusetzen. So ist die PDS ein treffliches Mittel, die bis 1989 überkommene Parteienbalance im Westen wiederherzustellen und die Parteien in eine – wenn auch verschämte – Solidarität gegen östliche Zumutungen zu zwingen.

Zwingend ist diese Logik für die Parteien allerdings nur unter der vorgestrigen Annahme, daß sich die PDS irgendwann einmal durch eine vermeintlich „biologische Auflösung“ von selbst erledigt. Auch bis dahin wären die Kosten für die Ostfilialen der Bundesparteien allerdings erheblich und für Sozialdemokraten wie Bündnisgrüne nicht ohne Überlebensrisiko. Solange diese sich nämlich auf ideologische Abgrenzung zur PDS so weit festlegen lassen, daß sie sogar den Part der polemischen Interessenvertretung-Ost an die PDS abtreten und höchstens von den sogenannten „Befindlichkeiten“ im Osten reden, erspart man der PDS nicht nur, sich mit einer realistischen Programmatik erklären zu müssen. Sie hat überdies hinreichend Luft, sich als die Opposition im Osten zu profilieren und sich in breiten Schichten potentiell sozialdemokratischer oder alternativer Wähler zu verankern. Schon jetzt zeichnet sich in den CDU-dominierten Ländern Sachsen und Thüringen eine mittelfristige Parteienpolarisierung zwischen CDU und PDS ab. Die CDU hat nur ein Problem: Wie soll sie sich in einer weitgehend entkonfessionalisierten Gesellschaft als eine „Volkspartei mit christlichen Grundwerten“ verankern? Eine Neuauflage des bayerischen Kulturkampfes um das Kreuz in der Schule, nun als Streit um den LER- Unterricht in Brandenburg, kann für die CDU so oder so eher nach hinten losgehen. Sie wird sich wohl oder übel um ihre Repräsentanten und „Leistungsträger“ im Osten kümmern müssen.

Die SPD steht von allen vor der schwierigsten Bewährungsprobe. Obwohl die Ostdeutschen nach dem Muster ihrer politischen Werte und Erwartungen mehrheitlich sozialdemokratisch orientiert sein sollten, erweist sich diese Vorliebe in Zeiten existentieller Verunsicherung bisher als die zweite Wahl. Bloße Solidarität ohne Aussicht auf Wirkung ist ein Luxus für bessere Zeiten. Zur dritten Wahl wird die SPD im Osten, wenn es ihr nicht gelingt, sich als Repräsentant ostdeutscher Interessenlagen sowohl gegenüber der PDS zu behaupten, als auch diesen Anspruch mit ihrem bundespolitischen Profil zu vereinbaren. Ihr fällt historisch wie politisch die Aufgabe zu, Solidarität in einer Ungleichheit produzierenden Gesellschaft demokratisch durchzusetzen.

Um in dieser Rolle glaubhaft zu wirken, muß sie erst wieder an die Grundlagen ihrer historisch-politischen Identität im Sinne von „links“ und „solidarisch“ anknüpfen wollen. Die SPD könnte ihre Erfahrungslücke im Osten allerdings erfolgreich überspringen, wenn sie den spezifischen Erfahrungsvorsprung des Ostens wahrnimmt: Aus der „nachholenden Modernisierung“ ist im Osten längst eine „vorauseilende“ geworden. Die SPD hätte ihre zweite Chance, wenn sie im Osten jene künftigen gesellschaftlichen Konfliktlagen erkennt, wobei ihre demonstrative Parteinahme langfristig zum Schlüssel für eine mehrheitliche Interessenvertretung in Deutschland werden kann. Hans Misselwitz