Lesen und Liegestütz

■ Ein Sonntagsbesuch bei der sehr ungewöhnlichen Jugend-Boxabteilung des TuS Finkenwerder Von Claudia Thomsen

Eine halbe Stunde fährt man mit dem Dampfer von den Landungsbrücken nach Finkenwerder. Rechts vom Anleger steht das Ortsamt, links die Gorch-Fock-Halle. Sonntags ab 14 Uhr rennt hier keiner mehr über das Turnhallenparkett. Stattdessen baumeln Sandsäcke an Stahlseilen ungestört vor sich hin. Fünfzehn jugendliche Boxer sitzen im Kreis auf dem Boden, begrenzt von den Ringpfosten. Mecit Cetinkaya spricht über den Konflikt in Tschetschenien. Für den Obmann der Jugend-Boxabteilung des TuS Finkenwerder sind Sport, Kultur und Politik untrennbar miteinander verbunden. Der Vortrag des gelernten Maurers ist auf türkisch. Ich verstehe nur einzelne Worte wie „Imperialismus“ oder „Jelzin“. „Oft lesen wir gemeinsam Artikel oder sprechen über ein Buch“, erzählt der 24jährige, dessen Vollbart und hellblauer Jogginganzug so gar nicht zum klischierten Bild vom stiernackigen Boxcoach passen.

Die Entstehungsgeschichte der Boxabteilung entspricht in ihrer Unkonventionalität der des Trainers. Mit Sport wollten die Mitglieder des hiesigen türkischen Kulturvereins die Kids von der Straße locken. Cetinkaya schien für die Umsetzung dieser Idee geeignet, da er selbst jahrelang in Wilhelmsburg geboxt hatte. Doch wie würde der TuS Finkenwerder auf die Beitrittswünsche reagieren? Jener Traditionsverein, der im März 1993 sein 100jähriges Bestehen feierte und in dem knapp ein Viertel der 12.000 im Ort ansässigen Menschen Mitglied ist. „Aus reiner Utopie habe ich vor drei Jahren angefragt, und der Vorstand hat dem Beitritt sofort zugestimmt“, ist auch Cetinkaya noch immer verblüfft von der Leichtigkeit, mit der er zum Ziel gelangte. Seit Dezember 1991 wird sonntags, mittwochs und freitags geboxt. Dreißig Mitglieder zwischen zehn und fünfundzwanzig Jahren hat die Abteilung – fast alle stammen aus der Türkei.

Angesichts der vielen schmächtigen Kerlchen, an denen die Handschuhe wie dicke Brote baumeln, die gen Boden streben, fragt man sich unwillkürlich, ob es keinen Zoff mit den Eltern oder Diskussionen über die Unsinnigkeit des Boxsports gibt? Oder ist dies nach den Erfolgen von Henry Maske oder Dariusz Michalczewski inzwischen obsolet? „Meine Mutter wollte lieber, daß ich Kung Fu mache, aber da ich noch nie verletzt war, ist das okay“, berichtet ganz selbstverständlich der 14jährige Mahir Oral, der am Boxen besonders die Gelegenheit schätzt, seinen Mut beweisen zu können. Das zweistündige Training jedenfalls ist – sonntägliches Lesen hin oder her – kein Honigtanz. Zwischen den Einheiten, in denen die Sandsäcke mit Fäusten bearbeitet werden, stehen die Rockyleins völlig ausgepumpt da. Ein kurzes Kommando setzt partiellem Hängertum oder Unaufmerksamkeit jedoch schnell ein Ende: Als Faulpelze geoutete Teens gleiten mucksch und doch zügig zu Boden – zehnmal Straf-Liegestütz. Ob es am von moderner Hochschulpädagogik nicht sonderlich stark verwässertem Trainingsstil liegt oder nicht – die jungen Boxer sind überaus erfolgreich. Schon bei ihrer zweiten Teilnahme an den Hamburger Meisterschaften errang die Cetinkaya-Crew 1994 fünf Titel.

Bilen Denis Oral ist der schüchterne Star der Truppe. Der 16jährige kann den Blick kaum von seinen Handschuhen wenden, mit denen er von seinen bisher 15 Kämpfen zwölf gewann und nur einen verlor. Denis hat sich wie der 13jährige Turan Yilmaz bereits zweimal für die deutsche Meisterschaft qualifiziert, deren Teilnahme jedoch strikt an die deutsche Staatsbürgerschaft gekoppelt ist. „Mit 16 kann ich wenigstens bei den internationalen deutschen Meisterschaften mitmachen“, bleibt Papiergewichtler (bis 40 Kilo) Turan in cooler Meine-Zeit-wird-kommen-Manier gelassen.

Mecit Cetinkaya ist zwar „echt happy“ über den Erfolg seiner Mannschaft, wirklich am Herzen liegt dem Familienvater jedoch etwas anderes: „Am wichtigsten ist, daß die Jungs sauber bleiben und korrekt auftreten. Wenn wir zu Wettkämpfen fahren und einer hat seine Bandagen nicht gewaschen und gebügelt, kann er gleich wieder einpacken.“ Mit gleichem Einsatz wirbt er nebenbei für eine andere gute Sache: „Als Mensch gehöre ich keiner Nationalität, sondern in erster Linie der Menschheit an.“

Die internationalistische Gesinnung des drahtigen Mannes geht einigen Eltern jedoch zu weit. „Die denken rein türkisch“, kommentiert der Umstrittene die periodisch aufflammenden Dispute. Umstimmen konnte ihn bisher keiner. Deshalb wird Cetinkaya auch weiterhin mit den Box-Kids Artikel über die Schwarzen in Südafrika oder über Verhaftungen von AlgerierInnen in Frankreich lesen. Denn: „Wenn das nur an einem hängenbleibt, daß man das nicht gutheißen kann, reicht das schon.“ Irgendwie macht es Sinn, daß die Sporthalle den Namen eines Schriftstellers trägt.

Morgen ab 10 Uhr findet in der Gorch-Fock-Halle ein Jugend-Vergleichskampf zwischen Hamburg und Frankfurt/Oder statt. ZuschauerInnen sind herzlich willkommen.