Konfrontation statt Entspannung

Seit fast eineinhalb Jahren läuft der Prozeß gegen das RAF-Mitglied Birgit Hogefeld. Trotz lückenhafter Indizien wird das Urteil „lebenslänglich“ für die frühere RAF-Aktivistin immer wahrscheinlicher. Die vergiftete Atmosphäre im Verfahren vor dem Oberlandesgericht Frankfurt blockiert auch eine kritische Würdigung der nachdenklichen Radikalen  ■ Von Gerd Rosenkranz

Die Aufführung zieht sich quälend hin. Ein ums andere Mal muß der albern verkleidete Mann mit dem Siebziger-Jahre-Outfit den Saal verlassen. Das Gericht verhandelt, faßt einen Beschluß. Der Grenzschutzbeamte der Sondereinheit GSG9 kehrt zurück in den Zeugenstand. Das Resultat ist jedesmal dasselbe: Fragen, die über die unmittelbare Festnahmesituation der Angeklagten Birgit Hogefeld in der Bahnhofsunterführung von Bad Kleinen am 27. Juni 1993 hinausgehen, muß und darf „Nummer6“ nicht beantworten. Der Schutz „taktischer Einsatzvarianten“ der GSG9 wiegt schwerer als die gerichtliche Aufklärung des blutig mißglückten Anti-Terror- Einsatzes in Mecklenburg-Vorpommern. Das groteske Spiel geht in die nächste Runde, stundenlang.

Im ausnahmsweise voll besetzten Zuschauerraum hinter der Trennscheibe kommt Unruhe auf. Irgendwann wird es einem der jungen Leute zu bunt: „Mann, wir sind doch hier nicht im Kasperletheater!“ Der harmlose Stoßseufzer über die komplexen Regularien der Strafprozeßordnung kommt vorn bei Gericht als fast schon kriminelle, zumindest aber als unerhörte Attacke gegen unser Rechtssystem an. Erich Schieferstein, der Vorsitzende des 5. Strafsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt, reagiert gereizt, wie ein Dorfschullehrer: „Stehen Sie auf und wiederholen Sie das!“ Augenblicklich kehrt Ruhe ein. Der Delinquent mag das drohende Bußgeld nicht berappen und schweigt. Auftritt Walter Hemberger, Vertreter der höchsten Anklagebehörde, in weinroter Robe: „Feigling! Feigling! So sind sie, die revolutionären Kämpfer!“

Ob Kay Nehm davon weiß? Ob der Generalbundesanwalt weiß, auf welch geiferndem Niveau sein Sitzungsvertreter in diesem Verfahren seine Vorurteile demonstriert? Am selben Verhandlungstag – die Angeklagte hat in einer zugegeben scharfen Erklärung Frust abgelassen über die vergiftete Atmosphäre, die diesen Prozeß von Anfang an belastet hat – fällt Hemberger noch einmal aus der Rolle. Seine vor Polemik strotzende Replik beendet er mit den Worten: „Ich bin überzeugt, daß Sie an allen Taten, die hier angeklagt sind, beteiligt waren!“ Ein Kurzplädoyer, lange vor der Zeit. Birgit Hogefeld wird – unter anderem – vierfacher Mord vorgeworfen. Was die Bundesanwaltschaft fordern wird, steht spätestens seit diesem Auftritt Hembergers fest: „lebenslänglich“.

Die Verhandlung vor dem OLG Frankfurt ist mittlerweile fast anderthalb Jahre alt. Chronisten, die sich nur gelegentlich dem zermürbenden Prozeßalltag aussetzen, beobachten mit einer Mischung aus Überdruß und Enttäuschung den „RAF-Klassiker“ (Zeit) und „ritualisierten Schlagabtausch“ (Süddeutsche Zeitung) vor den Schranken des Gerichts. Der atmosphärische Rückfall in die „Kampfphase“ der siebziger und achtziger Jahre ist nicht zu leugnen. Zum Thema der Berichterstattung wird er, weil heute anderes erwartet werden durfte.

Als Birgit Hogefeld im Sommer 1993 in die mit Hilfe des V-Manns Klaus Steinmetz in Bad Kleinen aufgestellte Falle lief, hatte die RAF längst aufgehört zu töten. Vieles spricht dafür, daß die Angeklagte innerhalb der Untergrundgruppe, der zuletzt die Vorstandschefs der Deutschen Bank und der Treuhandanstalt, Alfred Herrhausen (1989) und Detlev Karsten Rohwedder (1991), zum Opfer fielen, zu jenen Kräften zählte, die 1992 die historische „Zäsur“ in der Geschichte der Linksguerilla herbeiführten.

Vor mittlerweile vier Jahren, am 10. April 1992, erklärte die RAF, sie werde künftig auf Attentate gegen „führende Repräsentanten aus Wirtschaft und Staat“ verzichten. Die nicht eben seltenen Prozeßerklärungen der Angeklagten Hogefeld jedenfalls bilden unübersehbar eine inhaltliche Kontinuität mit den Verlautbarungen der Untergrundgruppe vor und nach Bad Kleinen: Weg vom Avantgardeanspruch, zurück in die Gesellschaft und vor allem: keine tödlichen Anschläge mehr. Aber auch: Aufbau einer „Gegenmacht von unten“, also die von der RAF und den versprengten Resten der radikalen Linken nie aufgegebene Hoffnung, daß sich an den sozialen, ökologischen oder internationalen Krisen eine neue Bewegung kristallisiert, die die durch die „Errungenschaften“ des realen Sozialismus gründlich diskreditierte Revolution – irgendwie, irgendwann – noch einmal neu erfindet.

Das ist Birgit Hogefelds Problem: Faktisch vollzieht sie den größten ideologischen Sprung, den Aktive der RAF in ihrer über zwanzigjährigen Geschichte je gewagt haben. Doch gleichzeitig will sie die Solidarität der linken Szene, auf die sie sich angewiesen glaubt, nicht überstrapazieren. Die Gratwanderung hat dramatische Konsequenzen. Denn vor dem OLG Frankfurt sitzt sie Anklagevertretern und, so ist zu befürchten, Richtern gegenüber, die diese speziellen Nöte einer Linksradikalen im Deutschland des Jahres 1996 nicht verstehen, schlimmer: nicht verstehen wollen.

Das Verfahren könnte nicht schärfer geführt werden, säße auf der Anklagebank eine Frau, die an jedem Verhandlungstag zur erneuten Eskalation des „bewaffneten Kampfes“ aufriefe. Birgit Hogefeld tut das Gegenteil. Der Bundesanwaltschaft ist das nicht genug. Sie will, daß Hogefeld hier und heute bereut, bekennt und sich selbst anklagt.

Täte sie es, wäre sie nicht nur die Solidarität ihrer GenossInnen los, sondern auch das, was sie ihre „politische Identität“ nennt. Wofür? Irgendeine Sicherheit, daß das auf ein umfassendes Geständnis folgende Urteil eine Lebensperspektive jenseits des Knastes ließe, gäbe es auch für eine reumütige Hogefeld nicht.

Es gibt gegen Birgit Hogefeld zwei Kategorien von Vorwürfen. Solche, die so gut wie bewiesen sind, aber keine lebenslange Strafe rechtfertigen. Dazu zählen ihre RAF-Mitgliedschaft und die Beteiligung am Sprengstoffanschlag auf den Gefängnisneubau Weiterstadt. Und solche, an deren Stichhaltigkeit Zweifel bestehen, die aber im Fall einer Verurteilung zwangsläufig „lebenslang“ bedeuten. Konkret sind das der Mordvorwurf im Zusammenhang mit ihrer Festnahme in Bad Kleinen und die angebliche Beteiligung an der Ermordung des US-Soldaten Edward Pimental und dem nachfolgenden Anschlag auf die US-Airbase in Frankfurt am Main (1985).

Beispiel Bad Kleinen. Die Bundesanwaltschaft will Birgit Hogefeld wegen vollendeten und sechsfachen versuchten Mordes verurteilt sehen, obwohl die Angeklagte gefesselt in der Unterführung lag, als der GSG-9-Beamte Michael Newrzella und ihr Lebensgefährte Wolfgang Grams oben auf den Gleisen tödlich verletzt wurden. Ob Hogefeld für den Tod Newrzellas verantwortlich gemacht werden kann, hängt davon ab, ob die frühere Absprache der RAF-Mitglieder, wonach man sich in Festnahmesituationen den Weg notfalls auch mit tödlichen Schüssen freischießen müsse, 1993 – über ein Jahr nach der Deeskalationserklärung von 1992 – noch Bestand hatte. Hogefeld bestreitet das, fast gleichlautend hat sich der V-Mann Klaus Steinmetz gegenüber Vernehmungsbeamten geäußert.

Auch Beweise für die Beteiligung an der hinterhältigen Ermordung Pimentals und dem Anschlag auf die US-Airbase gibt es nicht, nicht einmal eine tragfähige Indizienkette, die den Beweis im juristischen Sinn ersetzen könnte.

Hogefeld soll den bei dem Anschlag eingesetzten Pkw beschafft haben. Doch die Schriftgutachter des Bundeskriminalamts können die Unterschrift auf dem Kaufvertrag der Angeklagten nicht sicher zuordnen. Ankläger Hemberger bedient sich deshalb in seiner Beweiswürdigung eines Tricks. Zur Zeit des Anschlags seien nach Erkenntnissen der Behörden nur fünf Frauen Mitglieder der RAF gewesen. Vier von ihnen kämen als Urheberinnen des Schriftzugs nach den Einlassungen der Schriftgutachter kaum in Frage. Bleibe also nur Hogefeld. Als ähnlich fragwürdig haben sich zehn und mehr Jahre nach dem Anschlag die widersprüchlichen Aussagen einer Reihe von „Wiedererkennungszeugen“ erwiesen.

Der „gesunde Menschenverstand“ mag der Wahrheitsfindung nach den Regeln eines Abzählverses eine gewisse Plausibilität beimessen. Vor den Schranken des Gerichts reicht das nicht. In jedem „normalen“ Gerichtsverfahren hieße das Ergebnis wohl: Freispruch aus Mangel an Beweisen.

Die schwache und lückenhafte Indizienkette ausgerechnet bei den Tatvorwürfen, die „lebenslang“ bedeuten würden, verleiht dem „Atmosphärischen“ in diesem Verfahren seine schicksalhafte Bedeutung. Einerseits eröffnet diese Ausgangslage dem Gericht den Spielraum, Birgit Hogefeld mit einer zeitlich begrenzten Haftstrafe davonkommen zu lassen und so ihre „Verdienste“ um die faktische Beendigung des bewaffneten Kampfes der RAF zu würdigen. Andererseits vernebeln die rituellen Scharmützel ständig den Blick auf die Chancen, die mit einem solchen Urteil – nicht nur für Birgit Hogefeld – verbunden wären. Die „Lebenslänglich“-Automatik für RAF-Mitglieder wäre durchbrochen, die Tür für ein „ziviles“ Ende der 25jährigen blutigen Auseinandersetzung zwischen RAF und Staat weit offen.

Dazu, daß es so wohl nicht kommen wird, haben viele beigetragen. Auch die Politik, die nach dem bislang letzten großen Beben, dem von Bad Kleinen, jedes Interesse an einer strategisch bewußten Beendigung der Auseinandersetzung verloren hat. Auch Birgit Hogefeld, als sie das Urteil „lebenslang“ schon vor Prozeßbeginn in Szeneblättern herbeischrieb. Auch das Gericht, das im Vorfeld des Prozesses den Anspruch der Verteidigung auf umfassende Akteneinsicht abblockte. Auch die Verteidigung, als sie vor dem Gericht zu oft in die eisige Schärfe zurückfiel, die die Beobachter verschreckte.

An einem der letzten Verhandlungstage stritten Ankläger und Angeklagte wie die Zweitkläßler über die Frage: Wer hat angefangen, wer hat zuerst Gift in die Verhandlungen gestreut? Das herauszufinden wäre eine ernsthafte Debatte wert.

Manches spricht dafür, daß „der Staat“ angefangen hat. Am 28. Juni, dem Tag nach dem Desaster von Bad Kleinen, verkündete der damalige Generalbundesanwalt Alexander von Stahl, Hogefeld habe die Bahnhofsschießerei eröffnet. Eine nachweisliche und später zurückgenommene Fehlinformation. Dann erweiterte die Bundesanwaltschaft den Haftbefehl um die Komplexe Weiterstadt und Bad Kleinen. Bis Februar 1994 blieb Bad Kleinen der einzige Mordvorwurf. Ein Vorwurf, den nicht einmal die ehrwürdige Zeit nachvollziehen mochte. Die Wochenzeitung legte dem Gericht („Es ist noch Zeit zur Umkehr“) die Nichtzulassung des Anklagepunktes nahe.

In dieser Situation entschloß sich die Anklagebehörde zu einem Schritt, der mehr als alles andere die verheerende Verhandlungsatmosphäre vorherbestimmte. Wie aus dem Nichts, nur Wochen nach dem zuletzt erweiterten Haftbefehl, beschuldigte sie Birgit Hogefeld in der Anklageschrift vom März 1994 zusätzlich des Mordes an Pimental und des für zwei Menschen tödlichen Anschlags auf die US-Airbase. Plötzlich, neun Jahre nach dem Verbrechen, sprachen alle Indizien gegen Hogefeld. Ein Zufall? Das ist, bei allem Respekt vor der Anklagebehörde in der Karlsruher Herrenstraße, schwer zu glauben.

Birgit Hogefeld, für die sich Solidaritätsbekundungen auch jenseits des linksradikalen Spektrums anzubahnen schienen, sollte plötzlich verantwortlich sein für das vielleicht abscheulichste Verbrechen der RAF überhaupt. Ein Verbrechen, das viele noch heute für den Anfang vom Ende der Gruppe halten, weil selbst Hardcore-Linke sich danach von den Methoden der RAF abwandten. Birgit Hogefeld selbst verstand den ungewöhnlichen Schwenk der Bundesanwaltschaft in letzter Minute als unmißverständlichen Hinweis: Ein Leben nach dem Knast werde es für sie nur geben, wenn sie als Kronzeugin zur Aufklärung der RAF- Anschläge zwischen 1984 und 1991 beitrage. Diesen Weg jedoch schloß sie für sich aus.

Immerhin, inzwischen deutet sich Nachdenklichkeit auch in Karlsruhe an. Walter Hembergers Auftreten vor Gericht scheint dort nicht mehr unumstritten. Vorsichtig und doch eindeutig heißt es in der Bundesanwaltschaft: „Die Zeiten der harten Konfrontation vor Gericht sollten eigentlich vorbei sein. Aber nicht jeder Staatsanwalt und nicht jeder Verteidiger ist gleichzeitig ein guter Psychologe.“ Bitter für Birgit Hogefeld.