Gefährlicher Quark

Vom Rinderwahnsinn will ich schweigen, denn ich hätte ihn erfinden können. Über Paranoia, Askese, Warenkomplexität und Souveränität  ■ Von Michael Rutschky

Eigentlich wollte ich zum Rinderwahn schweigen. Dem Wahn, meine ich, uns stehe, so wir den hemmungslosen Verzehr von Rindfleisch fortsetzen, unwiderruflich eine Massenkrankheit ins Haus, die unser Gehirn in einen formlosen Schwamm verwandelt. So grausten sich Jünglinge früher vor dem Geschlechtsverkehr mit der Prostituierten, der ihnen die Syphilis und Gehirnerweichung einbringen könnte.

Die Syphilis führte tatsächlich zu Massenverheerungen. Dagegen droht uns die Gehirnerweichung durch Rinderwahnsinn bloß aus der Zukunft, und weil es also um Unbekanntes geht, darf die Befürchtung aufs köstlichste ausgemalt werden und ist unwiderlegbar. Jeder, der darauf verweist, die Verursachung des Creutzfeldt-Jakob-Syndroms durch den Verzehr von an boviner spongiformer Enzephalopathie erkrankten Rindern – als Kind pflegten mich solche Wortungetüme zu begeistern: bovine spongiforme Enzephalopathie –, jeder, der den Zusammenhang nicht auf Anhieb anerkennt, gilt als Abwiegler, Schönredner.

Nein, ich wollte zum Rinderwahn schweigen. Denn die Sorge, er werde uns Fleischesser mit Gehirnerweichung schlagen, ähnelte längst selbst einem Wahn, und Wahnbildungen soll man unwidersprochen lassen, weil Widerspruch sie befestigt.

Den Wahn charakterisiert, daß er wuchert. So konnte man zuschauen, wie innerhalb kurzer Zeit so gut wie alles Rindfleisch, das in der Bundesrepublik angeboten wurde, irgendwie, auf verschlungenen, womöglich geheimen Pfaden aus dem Vereinigten Königreich hierher gelangt war. Im Auto unterwegs, hörte ich eine eifrige Jungmännerstimme dem Moderator des Privatsenders hochzufrieden auseinandersetzen, wieso er auch kein Rindfleisch aus Holland mehr verzehre: Da sei es Anfang der Neunziger nämlich zu Importen aus England gekommen.

Eine hoch angesehene Berliner Supermarktkette, deren Fleischtheke stets Rindfleisch aus Irland offerierte, stellte überhaupt jeden Rindfleischverkauf ein – auch kein Schabefleisch (wie man in Berlin sagt) und keine Rindersalami mehr: Es sei, erklärten uns Handzettel, womöglich zum Schmuggel von englischem Rind nach Irland gekommen, und solange diese Gerüchte unwiderlegt bestünden, werde das Vertrauen der Fleischkunden nicht strapaziert. Wie gesagt, plötzlich schien alles Rindfleisch unversehens in großbritannisches verwandelt.

Noch drastischer zeigte sich das Wuchern der Wahnbildung dann daran, daß plötzlich irgendwie jeder Stoff aus Rindfleisch gemacht schien und, weil alles Rindfleisch über Nacht in englisches verwandelt war, aus eben rundherum durchseuchtem. Die Lippenstifte der Damen: sowieso; aber neulich erzählte Dagmar, wie ein Lehrerkollege in der Cafeteria demonstrativ Quark mit Früchten verschmäht habe, nein, das lasse er lieber stehen, denn da sei Gelatine drin, und die Gelatine stamme von Rindern ab... So verwandelte sich eine bereits kulturkritisch gegen den Fleischverzehr konzipierte Speise, harmloser Quark mit lieblichen Früchten, plötzlich unversehens in verpestetes Fleisch. Auf diesem Wege konnte jeder, wirklich jeder Stoff, mit dem du in Berührung kamst, die Gestalt englischen, das heißt verseuchten Rindfleisches annehmen. Wer widersprach, wie gesagt, schien abzuwiegeln, schönzureden, die Interessen der Industrie zu vertreten oder der Politiker, die jahrelang, wie das ihre Art ist, die Gefahr der Ansteckung durch den Rinderwahn abgewiegelt und schöngeredet hatten.

Nein, ich will zum Rinderwahn schweigen. Denn ich hätte sein Erfinder sein können. Er scheint eine fleischlich-faktische, in Wirklichkeit ist er eine hochsymbolisch-phantastische Angelegenheit. Seit langem beschäftige ich mich mit dem, was Sigmund Freud als das „Unbehagen in der Kultur“ ausgedrückt hat, unter ganz anderen gesellschaftlichen Umständen als den unseren, Anfang der dreißiger Jahre. Litt die alte Welt einfach, worunter Menschen leiden können – Ungerechtigkeit, Krankheit, verschmähter Liebe Pein, dem Übermut der Ämter sowie der Abwesenheit Gottes, der für diese Leiden hienieden nur manchmal und zufällig, erst für das Jenseits wirklich Trost und Wiedergutmachung versprach –, so durchdringt die moderne Welt das gestaltlose Unbehagen, sie kranke selbst an einem grundsätzlichen, aber so gut wie unerkennbaren Konstruktionsfehler. Insofern kein Gott, sondern die moderne Welt selbst die moderne Welt hervorbringt, weshalb wir unser, vor allem das Wirken der anderen mit höchstem Mißtrauen zu beobachten haben. Warum, lautet die auf Dauer gestellte Selbstbefragung der modernen Welt, läuft eigentlich alles schief?

Zum Rinderwahn will ich schweigen, weil ich ihn erfunden haben könnte, um eine Antwort auf diese Dauerfrage zu exemplifizieren. Solche Antworten, vernünftige Erklärungen des Unbehagens in der Kultur, treten als gesellschaftskritische Diagnosen auf, die Fehlentwicklungen zu beschreiben scheinen, welche aufgrund der kritischen Beschreibung müßten aufgehalten und umgeleitet werden können. Genau an dieser Stelle aber wird's unheimlich. Oft genug nämlich erweist sich die soziologische Diagnose als eine Form von Aberglauben; oder sie tritt so grundsätzlich auf, daß eh nix mehr zu machen ist. Wenn von einer Fehlentwicklung gesagt werden darf, sie sei „letzten Endes gesamtgesellschaftlich bedingt“, dann ist eh alles eins, dann kann man auch das Schicksal anrufen, dessen Verfügungen wir widerspruchslos hinzunehmen haben.

An der paranoischen Massenreaktion auf eine gewisse englische Tierkrankheit war das, wie gesagt, so deutlich zu studieren, als hätte ich's erfunden. Selbst Dagmar, die sich über die Fruchtquarkphobie des Kollgen nicht lustig machen konnte, kam dann unversehens auf die Schweinepest zu sprechen und die Massentierhaltung und die Unnatürlichkeit unseres Naturverhältnisses, das Pflanzenfresser mit Tiermehl zu füttern erlaubte, eine Füttermethode, die den Verdacht, daß BSE den Menschen befalle, doch überhaupt erst... Eine genau umschriebene Gefahr, von der festgestellt werden kann, ob sie gegeben ist oder nicht, weitet sich im Weitererzählen und Durcharbeiten aus zu einer umfassenden Bedrohung. Mit ähnlicher Begeisterung, erinnere ich mich, berichtete die Bild-Zeitung einst, jetzt hätten die Forscher endlich herausgefunden, schon Zungenküsse übertrügen Aids. Um weiter zu essen und zu küssen, kann man das nur ignorieren, und das tun ja auch die meisten.

Nein, zum Rinderwahn will ich schweigen. Denn ich begann mich heftig zu ereifern. Schon Dagmar gegenüber erklärte ich plötzlich, der Wahn mit dem Rinderwahn beunruhige mich tief; denn er lehre, wie das Unbehagen in der Kultur ein frei schwebendes sei. Vorgestern der Vietnamkrieg und der Spätkapitalismus, gestern die Atomenergie und HIV, heute ein unbekannter Krankheitserreger in England, der uns zum Vegetarismus erziehen wolle – inzwischen, schrie ich Dagmar beinahe an, inzwischen könne ich mir vorstellen, wie das mit dem Antisemitismus funktioniert habe, plötzlich waren alle überzeugt, die Juden sind unser Unglück. So wie dein Kollege das kranke englische Rind im Früchtequark, so entdeckte man in den Dreißigern plötzlich überall den giftigen Einfluß der Kinder Israels. Schon daß Frauen sich die Lippen schminken, ist undeutsch.

Nein, ich werde zum Rinderwahn schweigen. Denn die ideologisch begründete Massenvernichtung von Rindern mit Auschwitz zu vergleichen und beides als wahnhafte Maßnahmen gegen das Unbehagen in der Kultur zu erklären, damit hätte ich die Grenzen des Erlaubten selber ins Wahnhafte, jedenfalls Geschmacklose überschritten, nicht wahr.

Da zum Rinderwahn zu schweigen mir mißlingt – findet sich wenigstens noch eine andere Erklärung für die Paranoia, statt des Unbehagens in der Kultur? Irgendwas Harmlos-, womöglich Amüsant- Systemtheoretisches?

Ja. Der Verzicht auf Rindfleisch aus Großbritannien, der Verzicht auf Rindfleisch überhaupt, die Durchmusterung verschiedenartigster Konsumgüter daraufhin, ob sie in Ableitungen und Spurenelementen (englisches) Rindfleisch enthalten: das ist Reduktion von Warenweltkomplexität.

Denn die Warenwelt, das aktuelle Angebot möglicher Kauf- und Konsumentscheidungen, charakterisiert eine außerordentliche Unübersichtlichkeit. Es gibt so viel zu kaufen, daß ich grundsätzlich gar nicht wissen kann, was ich alles zu kaufen wünschen könnte, was die Chance einer rationalen Kaufentscheidung empfindlich einschränkt. Ich bin auf meine Gier zurückgeworfen oder meine Bequemlichkeit, die mich von Umwegen abhält; statt des leckeren irischen Mineralwassers, das nur das Luxuskaufhaus am Wittenbergplatz offeriert, begnüge ich mich mit der Plörre von Bolle um die Ecke. Das kränkt den Konsumbürger, daß ihn die grundsätzliche Unübersichtlichkeit der Warenwelt um die Souveränität seiner Kaufentscheidung betrügt; wir wollen dem Ansturm der Wünsche gewachsen sein, und das erfordert vor allem, ihr Ausmaß zu kennen.

In dieser Lage sind Askeseforderungen hochwillkommen. Am besten, eine ganze Konsumkategorie fällt aus. Rindfleisch, weil alles Rindfleisch in den Verdacht gerät, durch eine unbekannte Gehirnkrankheit verseucht zu sein. Als ich mich vor langen Jahren entschloß, keine Synthetikstoffe in meiner Kleidung zu dulden, wurden ganze Wagenladungen von Klamotten unsichtbar. Unvergeßlich der junge Schwule, der die Reduktion der Sexualchancen durch Aids lobte: Seit man sich vorsehen muß, fallen gewisse Verlockungen von selbst aus.

So stellen asketische Programme die Souveränität des Konsumenten wieder her. Die Angst vor der Infektion durch Rinderwahn muß als solches asketisches Programm gelten.